Rezension
Tocotronic
Tocotronic (Das Rote Album)
Highlights: Ich Öffne mich // Die Erwachsenen // Rebel Boy // Solidarität // Zucker
Genre: Indierock // Pop
Sounds Like: Kante // The Cure // Tocotronic
VÖ: 01.05.2015
Tocotronic sind jetzt keine Diskursband mehr. So war es in den letzten Wochen mehrfach zu lesen. Das ist so allerdings nicht ganz richtig. Es ist nicht nur nicht richtig, weil die Veröffentlichung einer neuen Platte die Vorgänger natürlich nicht abschafft und das Vorangegangene vergessen macht, sondern es ist auch nicht richtig, weil Tocotronic dem Diskurs nicht versagen, sondern ihn verlagern. Das elfte (!), selbstbetitelte, sogenannte „rote Album“ der Hamburger Berliner Band handelt von Liebe. Es ist ein kleiner Bruch, woher die große Aussage, Tocotronic seien keine Diskursband mehr, rühren mag. Tocotronic bewegen sich weg von der breiten Betrachtung großer Themen in nahezu theatralischer Form wie etwa auf „Schall Und Wahn“ (2010), sie legen den Fokus auf den Nahbereich – in allen Facetten: Knutschen, Sexualität, Panik, Eifersucht, Verwirrung, Einsamkeit; es geht um alle Arten der Liebe, weg von Heteronormativität. Aber, genau, nicht weg vom Diskurs.
Auch der Klang der Band erfährt eine Erfrischung: Tocotronic klingen so poppig wie nie zuvor. Bei vielen Songs ,wie etwa „Prolog“, steht nicht die Gitarre im Mittelpunkt des Sounds. „Die Erwachsenen“ ist ein nach The Cure anmutender Popsong, ebenso wie das herrliche „Rebel Boy“. Respekt, dass die Band diesen Schritt wagt. Dirk von Lowtzow, Arne Zank, Jan Müller und Rick McPhail reflektieren fortgehend, was es für sie bedeutet, Tocotronic zu sein, nur über diesen Prozess schaffen sie es immer noch, solch großartige und bedeutsame Alben zu veröffentlichen. Ihre Art, eine Band zu sein, hat sie nach 22 Jahren Bandgeschichte auf eine Ebene und einen Status nach außen geführt, den so vielleicht noch keine andere deutsche Band innehatte.
Und auf dem „roten Album“ textet die Band so direkt und offen, wie nie zuvor. Sie legt ein Studium der „Empfindsamkeit“ („Prolog“) vor. „Ich Öffne Mich“, ein großer Popsong, wie die Band ihn vom Sound her nie zuvor geschrieben hat, handelt davon, wie man über Sexualität und Berührungen anderer Menschen den eigenen Körper neuentdecken kann. Für wunderbare Zeilen wie „Alles ist so zyklisch // und dennoch unveränderbar“ („Die Erwachsenen“) schon lohnt es sich, dieses Album zu hören. „Solidarität“ ist vielleicht der aktuell relevanteste Song auf dem Album, hier geht es um Liebe zu denen, die sie vielleicht am meisten benötigen. Die, die „unter Spießbürgern Spießruten“ laufen, „von der Herde angestiert“. Geflüchtete Menschen, die Zuflucht brauchen, die wir ihnen endlich einfach schikanenlos gewähren sollten. „Vielleicht ist Solidarität die politische Form von Liebe“, meint von Lowtzow, und hat damit vielleicht recht.
Bemerkenswert ist, wie Tocotronic ein ganzes Album über Liebe aufnehmen, ohne dabei jemals peinlich zu sein, wie sie über Sexualität singen, ohne jemals sexistisch zu sein. Oft wurde die Vokabel „Liebe“ aus den Texten gestrichen, um all den Bedeutungen, die hinter ihm stecken nicht zu viel Gewicht zu geben. Denn nach von Lowtzow schwingt „eine Menge Wut über eine konventionelle und normative Bedeutung von Liebe“ mit. Tocotronic wollen lieben, wie sie es auf dem Album beschreiben, nicht so, wie die Gesellschaft es vorgibt – nämlich heteronormativ. So ist etwa „Zucker“ ein herrlich queerer Song („...du bist wenigstens nicht so wie die“), und mit „Haft“ schaffen Tocotronic es tatsächlich, in der Popkultur noch einen neuen Begriff für „Ich liebe dich“ zu prägen – „Ich hafte an dir // wie Tinte auf Papier // wie ein Sticker an der Tür“. Wunderschönes gemeinsames Einschlafen beschreibt „Diese Nacht“: „Ich schließe meine Augen // und ich öffne sie der Nacht // ich falle in den Schlaf // du hast mich ins Bett gebracht // und während ich noch spreche // hat sich mein Kopf davongemacht“. Abschließend handelt ein Hidden Track auf witzige Art und Weise von narzisstischer Liebe, Dirk von Lowtzow beschreibt ein Date mit sich selbst.
Tocotronic sind auch mit der elften Platte gerade deshalb noch eine Diskursband, weil der Diskurs in den kleineren, privateren Rahmen verlegt wird. In einen Rahmen, in dem ein jeder für sich seine Ansichten hinterfragen, sich und damit etwas verändern kann. In Zeiten, in denen Zehntausende gegen Überfremdung auf die Straße gehen, während tausende Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken, wird die kritische Hinterfragung eigener Positionen (auch wenn diese alleine natürlich nicht reicht) immer und immer wichtiger. Die Springer-Tageszeitung „Die Welt“ schrieb zur großen Freude der Band über das Album, es sei „das schwulste Album aller Zeiten“. Besser hätte sie, ohne es zu merken natürlich, nicht zeigen können, wie großartig und wichtig diese Platte ist. Tocotronic sind immer noch eine Band, deren Wichtigkeit man nicht hoch genug bewerten kann.
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