Konzertbericht

Tocotronic


Beim Betreten des Konzertsaals fallen zwei Dinge ziemlich schnell auf. Erstens, das Publikum ist wesentlich jünger als erwartet, und zweitens, ausverkauft wird das heute nicht. Letzteres ist aber auch kein Wunder, schließlich tourte Tocotronic im Frühjahr dieses Jahres schon ausgiebiger als gewohnt und spielte zudem auf diversen Sommerfestivals. Sie kommen so auf über 50 Konzerte in diesem Jahr, bis auf den Roskilde-Auftritt alles im deutschsprachigen Raum. Trotzdem füllt es sich noch ganz gut, gerade richtig für das Konzert einer Band, die die deutsche Indie-Rock/Pop-Szene in den letzten zehn Jahren geprägt hat, wie kaum eine Andere.

Der Hang zu "ausgefallenen" Vorbands der Tocos ist ja allgemein bekannt, so kam dieses Mal das amerikanische Rockduo "Staff" zum Zuge, das laut eigener Homepage eigentlich ein Trio sein sollte und zu Teilen aus "Fuck" besteht. Besuchern früherer Tocotronic-Konzerte dürfte dieser Name ein Begriff sein. Musikalisch ist das dargebotene nicht besonders aufregend, aber immerhin wird es durch Puppenspieleinlagen und das sehr eigenwillige Auftreten der Band doch ganz lustig. Knapp über 30 Minuten reichen dann aber auch völlig.

Eine kurze Umbaupause später ist es soweit. Das Licht geht aus und die Herren Jan Müller, Arne Zank, Rick McPhail und Dirk von Lowtzow betreten die Bühne. Mit "Wir kommen, um uns zu beschweren" und "Aber hier leben, nein danke" wird zuerst mal die inhaltliche Richtung vorgegeben. Dann folgt ein Querschnitt durch die sieben Tocotronic-Alben. Von "Drüben auf dem Hügel" bis zu "Gegen den Strich" und "Pure Vernunft darf niemals siegen". Kaum zu glauben, was diese Band für eine Entwicklung sowohl textlich als auch musikalisch durchgemacht hat. Dirk von Lowtzow wirkt gut gelaunt und ist stimmlich auf der Höhe. Keine Sekunde muss man an den kurzen, nicht schlechten, aber doch irgendwie belanglosen Rock-am-Ring-Auftritt denken, "Neues vom Trickser" ausgenommen. Tocotronic sind einfach keine Nachmittagsfestivalband. Das sollen sie auch gar nicht sein. Sie sind eine Band für die besonderen Momente, und mit Rick McPhail an der Gitarre scheint das kinderleicht. So werden "Jackpot" oder "Das Geschenk" von K.O.O.K so sensationell umgesetzt, dass man gar nicht anders kann, als sich in der Musik zu verlieren. Hier mal eine zweiminütige Feedbackorgie, da wieder ein Lied um eine Gitarrenspur erweitert. Es ist ein wahrer Genuss, einfach nur dazustehen und zuzuhören. Nichts wirkt deplatziert, nichts wirkt wie tausendmal gehört. Perfekt schaffen sie es, den Geist der Lieder zu bewahren, aber doch hier und da etwas einzustreuen, was das Konzert unvergesslich macht.

Nach gut einer Stunde ist es aber auch schon wieder vorbei und so muss mit Bedauern festgestellt werden, dass sich Tocotronic in dem Rockkonzertautomatismus Konzert-Zugabe-Zugabe nicht von anderen Bands unterscheiden. Trotzdem wird natürlich kräftig mitgeschrieen, schließlich will man jetzt noch nicht nach Hause gehen. Zunächst bleibt Rick McPhail hinter der Bühne, was bedeutet, dass wir zu einer schnellen Runde (nennen wir es mal) deutschsprachigem Grunge kommen. "Ich muss reden, auch wenn ich schweigen muss", "Drei Schritte vom Abgrund entfernt" und "Freiburg" kommen genauso druckvoll daher, wie man es sich wünscht, und so sind auch die Fans, die seit der ersten Stunde dabei sind, vollends zufriedengestellt.

Im zweiten Zugabenblock kommt dann nochmal ein richtiges Highlight. Auf "Hi Freaks" und "RockPopInConcert" folgen die ersten Töne von "So jung kommen wir nicht mehr zusammen". Wann haben sie dieses Lied eigentlich das letzte Mal live gespielt? Es muss eine Ewigkeit her sein. Die Fassung von der Platte dient in der Liveversion jedoch nur als Basis für pure Magie. Schlagzeug, Bass, Gitarren und Dirks unvergleichliche Stimme steigern sich von einem Höhepunkt zum Nächsten. Gitarrengeschrammel, nur hier und da unterbrochen vom Refrain. Das Gefühl für die Umgebung ist dabei schon lange verlorengegangen. Die Gitarrenlinien übernehmen das Ruder und tragen einen mit in eine andere Welt. Immer wieder fällt der Song in den Refrain zurück und baut sich von Neuem auf. Das Fantastische wiederholt sich, minutenlang, bis zum Schluss schließlich alles in sich zusammenbricht und das Outro einsetzt. Wie gefesselt steht man da mit starrem Blick zur Bühne, die Gedanken immer noch gefangen von der Musik. Was für ein Abschluss eines ohnehin schon großartigen Konzerts.

Matthias Kümpflein