Rezension

Trümmer

Trümmer


Highlights: Schutt und Asche // In all diesen Nächten // Nostalgie // Straßen voller Schmutz
Genre: Indiepop // angry young men
Sounds Like: Ja, Panik // Messer // Die Heiterkeit // Die Nerven // Tocotronic

VÖ: 22.08.2014

Messer, Zucker, Die Nerven – und jetzt auch noch Trümmer? Deutschsprachige Bands finden wieder Gefallen an einprägsamen Sachwörtern im Titel und politischer Attitüde im Text. Die eben genannten Bands setzen sich in extrem wohltuender Weise von dem Sumpf ab, der sich Deutsche Singlecharts nennt. Es vermag einem schon fast den Glauben an das Gute zurückzugeben, dass aus diesem seltsamen Land noch mehr kommt, als vollkommen intellektbefreiter Identitätspop à la Andreas Bourani, Die Toten Hosen oder der Neoschlager einer ewig atemlosen Helene Fischer.

Dabei schaffen es Trümmer, Songs mit politischem Anspruch zu schreiben, ohne dabei in Resignation und Melancholie zu verfallen. Ganz im Gegenteil wird hier die Wut über die herrschenden Zustände in Energie und die Hoffnung auf einen Auf- und Ausbruch umgewandelt. Schon der Name der Band deutet dies an. Wo sich Trümmer auftürmen, gilt es, einen Wiederaufbau anzugehen. Gleich zu Beginn ihres Debüts singen Trümmer davon, wie „uns alles hier um die Ohren fliegt“. Der Song wendet dies allerdings ins Positive und reagiert auf die Zerstörung mit einem Refrain voller Aufbruchstimmung: „Vor uns liegt immer noch mehr als hinter uns“!

Wer etwas zertrümmert, kann dies jedoch auch tun, um Missmut auszudrücken (wie dies Nikel Pallat von Ton Steine Scherben 1971 in einer Talkshow zumindest versuchte). Probleme wie Gentrifizierung, Polizeigewalt und Verdrängung bilden den düsteren Hintergrund für „Trümmer“. Paul Pötsch, der Sänger der Band, erlebt diese Problematik gerade am eigenen Leibe. Sein Wohnort St. Pauli passt nicht mehr in das Bild Hamburgs, das der Stadtverwaltung vorschwebt. Häuser werden luxussaniert oder gleich ganz abgerissen, und diejenigen, die das Bild dieses Stadtteils geprägt haben, können sich die Mieten dort kaum noch leisten. In „Straßen voller Schmutz“, das an die Punk-Wurzeln der Band erinnert, kommt folgerichtig auch das alte Thema "Recht auf Stadt" vor. Pötsch – dessen eigener Mietvertrag unlängst ausgelaufen ist und der jeden Moment mit der Räumung seiner Wohnung, die zugleich als Hauptquartier der Band und Büro des Labels dient, rechnen muss – singt hier: „Ich schau aus dem Fenster und frag mich, wem wohl die Stadt gehört“. Die titelgebenden Trümmer könnten auch diejenigen der sogenannten Esso-Häuser sein. Diese beiden Plattenbauten aus den 1960ern wurden nach einer Tankstelle auf demselben Grundstück benannt und standen in unmittelbarer Nähe zu Pötschs Wohnung. 2009 wurden sie in einem arg baufälligen Zustand an eine Münchner Immobiliengruppe verkauft. Diese ließ die Gebäude noch weiter verfallen, statt dringend notwendige Sanierungen durchzuführen, was bis zur akuten Einsturzgefahr führte. Im vergangenen Dezember wurden die Häuser daher geräumt und liegen mittlerweile schon längst in Schutt und Asche. Sie sind heute ein Symbol für die Vernichtung bezahlbaren Wohnraumes und die Verdrängung bestimmter Menschengruppen aus dem Stadtzentrum.

Klein beigeben ist jedoch keine Alternative. In „Wo ist die Euphorie“ schelten Trümmer daher die unpolitische Generation "Party", die sich eher in Träumereien flüchtet, als aktiv zu werden: „Die Stadt zerfällt in ihre Einzelteile / Lethargie, Langeweile / Und du, du, du, du sagst kein Wort / Du träumst nur von einem anderen Ort“. Die Wurstigkeit einer Wohlstandsgesellschaft, welche die Augen vor ihren Problemen verschließt, ist das Thema von „Scheinbar“. Pötschs Stimme ist kurz vorm Überdrehen und erinnert in ihrer Affektiertheit an Andreas Spechtl von Ja, Panik, wenn er singt: „Scheinbar geht es allen gut / Ja okay, man spuckt schon manchmal Blut / aber niemand liegt hier im Dreck / Denn dieses Leben, es ist so perfekt / Eine Stadt, eine Leiche / Ein Planet, ein Patient / Wo jeder nur an sich selbst denkt / Und niemanden wirklich kennt“. „Trümmer“ ist eine Platte, die Augen öffnen will, sich jedoch – um ihr Publikum nicht gleich zu verprellen – ein Gewand aus zuckersüßen Pop-Melodien überstreift.

Dies ist endlich mal wieder Musik von Belang; Haltung könnte wieder salonfähig werden! Näher an der Frankfurter Schule als an jener aus Hamburg, verweigerte sich die Band zunächst konsequent dem ganzen Zirkus um sie. Nachdem sie jedoch im vergangenen Jahr von der Spex noch vor Woodkid und Jake Bugg auf Platz 4 der besten Newcomer gewählt wurde und mittlerweile sogar bei der BR-Sendung „Startrampe“ – bandintern ironisch als „Trümmer-Reality-Soap“ bezeichnet – mitmischt, kann man nun hoffen, dass sich Trümmer auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft befinden. Erfolgreicher Pop muss wieder unbequem werden, der Finger muss in den Wunden und der Sand im Getriebe sein! „Wir verlassen die gemäßigte Zone / Es ist vorbei, niemand darf sich mehr schonen“ (aus „In all diesen Nächten“). Wäre es nicht wunderschön, sich endlich wieder mehr Gedanken darüber zu machen, wie wir leben wollen, und weniger über Helene Fischers Outfit?

Christoph Herzog

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"In all diesen Nächten" live und unplugged

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