Rezension

Destroyer

Kaputt


Highlights: Blue Eyes // Suicide Demo For Kara Walker // Bay Of Pigs (Detail) // Song For America // Kaputt
Genre: Pop // Soft-Rock // Jazz
Sounds Like: Roxy Music // Twin Shadow // Hot Chip // New Order

VÖ: 10.06.2011

Manchmal, an diesen Tagen, welche wir die ganz besonderen nennen, kommen wir in die Ehre eines dieser Momente, der kurzen Augenblicke, in denen wir meinen zu schweben, die Welt um uns herum aus einer anderen Perspektive zu sehen, zu umfassen, zu verstehen. Einen solchen Moment vermag bei offener Hingabe Destroyers "Kaputt" zu vermitteln. Hinter Destroyer stecken Mastermind Daniel Bejar (The New Pornographers, Swan Lake) und für diese Platte seine begleitenden "Kaputt Players". Schon der erste Eindruck, das Coverfoto, die Tiefe des Landes von der Heimat Vancouver aus überschauend, gibt einen Hinweis darauf, worum es hier geht: Gefühlt um fast alles, eine lyrische Reise, eine Kurzgeschichtensammlung in neun Teilen. Ein Album, welches mehr Literatur als Musik ist. Durch die Stimmigkeit der letzteren wird es allerdings zu einer traumhaften Symbiose der beiden.

Geschrieben hat Bejar "Kaputt" zwischen Herbst 2008 und Frühling 2010: Der lange Zeitraum verwundert kaum. Die Mischung aus softem Rock, romantischem Pop und jazzigen Elementen ist so ausgefeilt, dass es wirklich schwierig ist, hier Referenzen zu ziehen oder eine genaue Stilrichtung zuzuordnen. Das ist aber auch schlicht nicht nötig: Wie sich hier in der Schwebe zwischen Traum und Wirklichkeit die Instrumente aneinander anheimeln, ein Saxophon, Synthies und vieles mehr, alles getragen von einem Bass, dessen Spieler unheimlichen Spaß gehabt haben muss, ist ohnehin kaum mit dem Verstand zu fassen. Um so mehr dafür mit dem Herzen. Eine Platte voll schimmernder Musik, ohne auch nur einmal künstlich zu wirken.

Dieser Sound verschmilzt mit Bejars Texten, welche er zwar singt, viel eher aber mit säuselndem französischen Akzent absolut fokussiert vorträgt. "Chinatown" als Einstieg handelt von den verregneten Straßen Vancouvers und den kleinen Dramen, die sich an jeder Ecke offenbaren: "You can't believe // The way the wind's talking to the sea". In "Blue Eyes" wird die Symbiose aus Text und Musik besonders deutlich. Ein wundervoller, hocheleganter Popsong in Zweistimmigkeit mit Sibel Trasher, einer Sängerin aus Vancouver. Die Musik schwebt vor sich hin, vermittelt ein heimeliges, wohliges Gefühl, und Bejar verkündet: "I write poetry for myself! I write poetry for myself..."

In "Suicide Demo For Kara Walker" tut er dies gemeinsam mit Kara Walker, einer Künstlerin, welche sich viel mit der dunklen, rassistischen Seite der amerikanischen Geschichte und Gegenwart beschäftigt. Damit setzt sich auch der Song auseinander. Die Art, wie das zweieinhalbminütige instrumentale Vorspiel den Song in die Höhe hebt, die Sinne schärft für das, was in Gedankenfragmenten kommt ("...and as proud Americans, we let it slide...away... // harmless little Negress // you got to say yes // to another exces...") und die Art, wie die weitere musikalische Begleitung diese Schwebe und Fokussiertheit hält, sind schlichtweg genial. "Enter through the exit and exit through the entrance... // when you can". Bejar kann es vermutlich. Man möchte einen Roman schreiben, um dem Album, welches sich selbst wie ein ganzes Buch anfühlt, gerecht zu werden. Und "Kaputt" ist wahrscheinlich das growigste Grower-Album des letzten Jahrzehnts: Es wächst, wächst und wächst gen Himmel.

Im Titelstück "Kaputt" vermag Bejar unsere Generation zu ironisieren ("Sounds, Smash Hits, Melody Maker, NME // all sound like a dream to me") und es folgt der "Song For America". Doch das Absolutum folgt noch: "Bay Of Pigs (Detail)", der letzte Song, hebt noch einmal alles an. Schon im Booklet nicht in Versform, sondern wie eine Kurzgeschichte aufgemacht, live vom Papier vorgetragen: Dieser Song ist pure Literatur mit der musikalischen Untermalung, die ihr gebührt. Es ist einer dieser Songs, die einfach nur da sind, nicht mehr – denn das ist schwer möglich – und auf keinen Fall weniger. Ein Umherwandern in der Nacht, eine Philosophie über das Leben, den Lauf der Dinge ("The tide comes in and the tide goes out again"). Man kann fühlen, wie Bejar in der Bay von Vancouver steht, "...watching ships disappear in the rain", und denkt: "I've seen it all...". Ergebnis sind großartige Sätze wie "Love is a political beast with jaws for a mouth, I don't care."

Eine Reise in Fragmenten durch das Ich: "You travel light, all night, every night, to arrive at the conclusion of the world's inutterable secret... And you shut your mouth..." Welch herrliche, pure Wahrheit, die schon Hermann Hesse in "Narziss und Goldmund" erkannt hat. Welch herrliche Lyrik, welch Gedanken und Gefühle, die diese Platte in neun Stücke, in die man eintauchen und sich von ihnen fern treiben lassen kann, suggeriert. "Kaputt" ist wahrlich Dan Bejars Meisterstück: Es ist hoch künstlerisch, durch und durch stimmig, witzig und tragisch zugleich und vor allem einfach nur wahr. Schöner kann Musik in naher Zukunft kaum sein. Vor allem ist es ein Album, welches so tief und schön sein kann, wie der Hörer es möchte. Es regt zum Weiterdenken und -fühlen an, funktioniert gleichzeitig aber auch im Park in der Hochstimmung des Sommers.

Man möchte genau verstehen und fühlen, was Bejar meint, warum er die Dinge so setzt – realisiert aber, dass man sich dem nur annähern kann. Denn hier ist alles zur rechten Zeit am rechten Ort. Ein Zustand, wie er eben nur in jenem Moment passieren kann, der nicht zu erklären, nicht zu greifen ist, der nur ein einziges Gefühl ist: Pure Liebe, zur Musik, zu den Worten, zum Leben. Und wenn man wiederum in irgendeiner Weise versucht, diese zu Musik und Worten zu machen, dann ist ein solches, zutiefst weises Album das Ergebnis.

Daniel Waldhuber

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Video zu "Kaputt".

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