Interview

Karies


Ein Auftritt von Karies sorgt bei denen, die die Musik abfeiern, für gute Laune. Es kann aber auch passieren, dass sie auf ein Publikum treffen, dass sich durch sie beim Schnitzelessen gestört fühlt. Wie Karies zum Spießbürgertum stehen, welche Seelentiere sie sich gegenseitig zuordnen und was bei Kevin Kuhn zu Hause Peinliches zu finden ist, lest ihr im Interview.

Wir sitzen auf der Treppe zum Aufgang eines Parkhauses in der Bielefelder Innenstadt, direkt hinter dem "Übersehcontainer", in dem das Konzert von Karies gleich stattfinden wird. Obwohl der Übersehcontainer in seinem Orange das Bunteste ist, was man im tristen Parkhausgrau antrifft, wird er trotzdem von der Allgemeinheit gerne übersehen, was zu dem Wortspiel führte, das ihm seinen Namen gab. Karies spielen eines der letzten Konzerte im Übersehcontainer, denn der wird bald abgerissen, weil an seine Stelle weitere, angeblich unbedingt notwendige Kassenautomaten treten sollen. So ist das, mit der Vertreibung der Kultur. Karies kennen das nur zu gut aus eigener Erfahrung. "Solche Räume sind ja meist nur temporär nutzbar", sagt Kevin, und Benjamin schließt sich an: "Das ist ziemlich verbreitet in Stuttgart, dass Räume nur für eine gewisse Zeit zur Verfügung stehen, weil sie danach irgendein Investor übernimmt. Aber es ergeben sich daraus manchmal auch gute Sachen. Da gab es zum Beispiel einen Deal mit der Deutschen Bahn: Künstler konnten, so lange das Gelände für Stuttgart 21 noch nicht genutzt wurde, den Bereich nutzen." Der Container in Bielefeld erinnert die Band an die ersten Konzerte, die sie gemeinsam gespielt haben. Die fanden zum Beispiel im Stuttgarter Osten, in einer kleinen Eckkneipe namens "Gabys Gruft" statt und eben auch in den Waggons um Stuttgart herum.

Meist ist es aber doch zum Glück so, dass, wenn eine Location schließt, an einem anderen Ort eine neue Idee geboren wird. Und wunderbar abgefahrene Locations gibt es ja auch einige zu bespielen. Das absurdeste Konzert hat die Band mal in einer "gut bürgerlichen" Gaststätte in Dortmund gespielt. "Das Publikum war größtenteils zwischen 40 und 50. Mittelklasse mit dem Anspruch, aber auch kulturaffin zu sein. Die Gaststätte hat so ein Kulturprogramm angeboten, unter anderem mit Flamenco-Gitarristen, oder eben uns. Die Leute waren vollkommen unvorbereitet und wussten nicht, was sie erwartet. Aber es war auf jeden Fall interessant, weil sie so da saßen und auf ihrem Schnitzel gekaut haben und meinten, dass es ja ganz, ganz schön sei, aber ob es auch ein bisschen leiser gehen würde?! Aus der Nachbarschaft kam dann auch jemand mit einem Dezibelmessgerät und hat das dem Wirt gezeigt. Der hat es dann uns gezeigt und ich guck da so hin und sehe: 90 Dezibel... und ich sagte, ja, das ist ja voll leise!" Alle lachen, während Max von diesem besonderen Konzerterlebnis erzählt.

Aber mit Spießbürgertum wissen Karies nur zu gut umzugehen. Denn schließlich sind die meisten von ihnen mehr oder weniger im schwäbischen, ländlichen Raum aufgewachsen. Das Cover des ersten Albums "Seid Umschlungen, Millionen" ziert eine graue Hauswand, die aus dem Haus von Max' Mutter heraus fotografiert wurde. Irgendwo im Internet ist zu lesen, dass es das Haus von Jans Eltern sei, aber der muss das revidieren: "Nein, ich bin nie wirklich in einem Haus aufgewachsen. Ich war auf einer Waldorfschule, da gab es viele reiche Kids und darum war ich oft bei Freunden in großen Häusern zu Besuch. Aber ich war irgendwie der einzige, der in so einer kleinen Plattenbausiedlung groß geworden ist." So wird Jan von seinen Bandmitgliedern auch als der "urbanste" unter ihnen bezeichnet.

Karies, das sind Max Nosek (Bass, Gesang), Jan Rumpela (Gitarre), Benjamin Schröter (Gitarre, Gesang) und Kevin Kuhn (Schlagzeug). Die Texte schreiben Max und Benjamin und sie singen auch jeweils ihre eigenen Texte. Obwohl, nicht ganz: "Es gibt eine kleine Ausnahme", sagt Benjamin, "beim Song 'Traum Von D.' habe ich den deutschsprachigen Textteil geschrieben, den hat dann aber Max hauptsächlich gesungen. Das hat sich so ergeben, bei den Aufnahmen." Wie sich ohnehin scheinbar vieles einfach so ergibt, bei Karies. Die Songs an sich zum Beispiel. Die wurden nämlich von Auftritt zu Auftritt stimmiger – denn eigentlich hatte man sich früher nicht zum Proben, sondern nur zu Live-Auftritten getroffen.

Dass der Song "Abwärts" so beliebt bei den Leuten ist, liegt aber laut den Jungs nicht daran, dass er so gut ist, sondern einfach daran, dass es dazu ein Video gibt. Im Video zum Song gibt es so einiges zu entdecken. Sei es der "Nie Wieder Scheitern"-Beutel von Die Nerven, die Human-Abfall-Schallplatte, der "Von Heimat Kann Man Hier Nicht Sprechen"-Sticker, oder auch ein Bild von Elvis an der Wand. Sind das bewusst in Szene gesetzte Referenzen, oder hat das sich zufällig so ergeben? Max: "Das wurde einfach in meinem Zimmer gedreht. Es gab nicht wirklich ein Konzept für das Video. Wir haben einfach angefangen zu filmen – und dann waren das einfach diese Impressionen aus meinem Zimmer. Da liegen diese Sachen nun mal rum. Aber es war jetzt nicht bewusst durchdacht." Also keine Hommage an die Künstler? "Doch, das schon. Denn das ist schon so das Umfeld, das uns ermöglicht hat, mit Karies was zu machen."

Zu Die Nerven haben Karies zum Beispiel einen sehr direkten Bezug. Kevin Kuhn spielt bei beiden Bands Schlagzeug, Max Rieger (Sänger und Gitarrist bei Die Nerven) hat das Album "Seid Umschlungen, Millionen" produziert und Julian Knoth (Sänger und Bassist bei Die Nerven) war eigentlich auch mal Schlagzeuger bei Karies... "Eine Zeit lang haben wir uns sogar bei den Konzerten abgewechselt, beim Schlagzeugspielen!", erzählt Kevin. Irgendwann entschied man sich dann für Kevin als festen Drummer. Eigentlich hätte das schon früher der Fall sein können. Denn beim ersten Auftritt der Band Karies bei einem Trashival (das waren kleine Festivals, die Kevin mit veranstaltet hat) wurde er schon von Karies angefragt, ob er nicht in der Band mitmachen möchte. Aber da Kevin an dem Abend schon in drei anderen Bands gespielt hat, hatte er dafür keine Zeit.

Zugegebenermaßen, der Spruch "Kevin Kuhn hat viel zu tun" ist mittlerweile ziemlich ausgelutscht. Dennoch passt er wie die Faust aufs Auge. Kevin ist in unzähligen Musikprojekten unterwegs (neben den bereits erwähnten z.B. auch bei Wolf Mountains oder solo als Melvin Raclette). Wie kommt das? Gibt es keinen zweiten so fähigen Drummer in ihrem Umfeld, oder kann sich Kevin einfach nichts entgehen lassen? "Es gibt, glaub ich, wenig Leute, die zumindest im Raum Stuttgart auf kontinuierlicher Basis als Drummer spielen... Paul noch von Human Abfall und Tobi von Mosquito Ego... und noch so ein paar andere. Ich weiß nicht, ich hab halt viel Zeit und mag die Musik. Ich spiele jetzt aber auch nicht bei jeder Band!" Da müssen alle lachen. Nein, bei jeder x-beliebigen Band würde Kevin sicher nicht am Schlagzeug sitzen. Beeindruckend ist, wie sehr er das Spiel der ganzen Band durch sein eigenes Spiel beeinflusst. Es scheint, als sei er immer einen unhörbaren, winzig kleinen Takt voraus, als würde er die anderen anpreschen, um noch mehr Gas zu geben oder noch krassere Melodien zu spielen. Beim Schlagzeugspiel ist Kevin unglaublich aktiv und aufgedreht, im Gespräch dagegen fast schon zurückhaltend, aber immer freundlich. Wenn man Kevin mit einem Tier vergleichen müsste, ... dann wäre das wohl ein ähnlich ruhiges.

Im letzten Interview haben Kiasmos eine Frage für den nächsten Künstler aufgeschrieben. Sie wollten, dass die Band sich gegenseitig ihr "Geistestier" zuschreibt, also sagt, welches Tier der andere wäre, wenn man ihn als Tier sehen würde. Unter Karies macht sich auf jeden Fall ein Raunen breit. "Oh mein Gott!" und "Wie sollen wir das denn beantworten?!" sagen sie erstmal dazu, dann lange nichts. Irgendwann erbarmt sich Max und schießt los: "Ich würde sagen, Kevin ist ein Uhu! Ein Uhu, der hat auch so etwas Ruhiges, irgendwie Meditatives, aber gleichzeitig auch etwas Weises und Kauziges!" "Aha, ein Käuzchen also", sagt Kevin noch etwas nachdenklich, und widmet sich dann selbst der Bestimmung: "Benjamin, dein spirituelles Tier... ich denke, das ist so etwas wie ein Erdmännchen vielleicht?!" Da müssen erstmal alle zustimmend lachen. "Es muss auf jeden Fall ein Tier sein, das sehr viel Drang hat, in die Welt hinaus zu gehen und Sachen zu suchen. Aber auch immer wieder abzutauchen!" Benjamin widmet sich wiederum Jan, der ihn schon gespannt anschaut. "Jan, du musst irgendwas Filigranes sein. Ich muss an einen Luchs denken. Beim Gitarrenspiel, da pirschst du dich auch so an, und bist ganz dynamisch dabei." Jan tut sich mit der Aufgabe, Max zu bestimmen, etwas schwer: "Das ist echt nicht leicht,... irgendwas geistig Veranlagtes auf jeden Fall, aber eins, das die richtigen Taten zur richtigen Zeit raus haut! Und geordnet und strukturiert muss es auch sein... vielleicht so was wie ein Adler, der alles so von oben im Blick hat!". "Aber eigentlich sehe ich uns alle als Hunde", sagt Kevin noch. "Als ein Haufen trauriger Hunde". So traurig können die Hunde zum Glück nicht sein, denn sie lachen alle gerne.

Zum Schluss sollen Karies sich selbst auch noch eine Frage für den nächsten Künstler ausdenken. Die lautet: "Wenn du jetzt sterben würdest, würde dann irgendwas bei dir gefunden werden, was dir sehr unangenehm ist?" Eigentlich sollen die Künstler immer auch ihre eigene Frage beantworten, Karies halten sich aber geschickt zurück und meinen, dass es da gar nichts Unangenehmes zu finden gibt... Kevin guckt allerdings so angewidert, dass man ihm das nicht abkauft und er garantiert an irgendetwas Bestimmtes denken muss: "Ja, ich hab die Aaron-Carter-CD! "Crush On You" ist aber auch ein ziemlich geiler Popsong!" Wir freuen uns jetzt schon auf das Karies-Cover von "Crush On You". Das kann nur gut werden!

Marlena Julia Dorniak

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Rezension zu "Alice" (2018)
Rezension zu "Es Geht Sich Aus" (2016)

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