Story

Euro Trash


Was bringt einen dazu, einen sauerverdienten Samstagabend statt mit dem Länderspiel damit zu verbringen, gefühlte zwölf Stunden lang dem alljährlichen Untergang des Abendlandes (und von Teilen des Morgenlandes) beizuwohnen? Wahrscheinlich die tiefe Gewissheit, dass das jährliche musikalische Gruselkabinett aus den Untiefen der europäischen Unterhaltungsindustrie schockierender ist, als der beste Schocker und auch massiv Trash-TV-Geschädigten wohliges Fremdschämen entlockt. Und so hielt der ESC auch diesmal sein Versprechen und der Abend wurde geradezu unterhaltsam, auch weil der im Gegensatz zum hyperaktiven norwegischen Nerv-Frettchen Erik Solbakken angenehme deutsche Moderator Peter Urban sein Entsetzen angesichts diverser musikalischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit teilweise nur schwer oder gar nicht verbergen konnte.

Als beim spanischen Beitrag ein Typ über die Bühne rennt, wache ich wieder auf. So glattgebügelt war der erste Song, dass es mir selbst mit Anstrengung außerordentlich schwer fällt, mich in irgendeiner Form an die Performance oder gar das Lied zu erinnern. Schon hier trifft zu, was Peter Urban angesichts des norwegischen Beitrages trocken bemerken wird: Retortenpop, der so absurd durchdesignt wurde dass er genauso albern wirkt wie Daniel Diges‘ Frisur und die zweite Gruppe von Darbietungen, bei denen man nicht glauben kann, dass das wirklich wirklich der echte Beitrag dieses Landes ist. In der Folge halten sich beide Beitragsarten in der Waage. Die erste wirklich lustige Nummer und eine willkommene Abwechslung nach dem musikalischen Valium der gefühlten ersten neun Stunden: Sunstroke (!) aus Moldau mit ihrer absurden, offenbar unter Drogeneinfluss entstandenen und konzipierten Eurotrash-Nummer. Vor allem der Saxophon-Typ, und die Klamotten, und …eigentlich alles ist unglaublich, mein absoluter Favorit. Ganz im Gegensatz dazu die belgische Versicherungsvertreter-Version von Brendan Fraser, die "Walking In Memphis" von Marc Cohn singt, mit ungleich langweiligerem Text. Für Irland hat sich ein Bette-Middler-Verschnitt an eine Ballade gewagt, deren Randomness schwer zu übertreffen ist - und dennoch gelingt dieses Kunststück den folgenden Beiträgen spielend.

Ulkig hingegen die türkische Nummer, ein wilder Verschnitt aus den unsäglichen New-Metal-Jahren, LinkinPark aus der Gruft. Doch leider nur eine kurze Unterbrechung der Tristesse. Danach fällt in einer endlosen musikalischen Atomwüste lediglich noch Albanien mit einer Demonstration auf, wie das 80er-Revival wohl in den 90ern geklungen hätte – und Island, dessen Beitrag sich vom Irischen offenbar genauso sehr unterscheidet, wie die Namen der beiden Länder, allerdings mit dem kleinen Plus, dass das Walküre-Zelt Hera Björk es schafft, den für Bühnenshow und Outfit völlig falschen Song zu singen. Übrigens wird die Verwechselbarkeit der Beiträge für den geneigten Betrachter generell zunehmend zum Problem – der Norweger vom letzten Jahr scheint für Zypern und Großbritannien noch einmal aufzutreten, während der diesjährige norwegische Sänger (oder vielleicht eher „Sänger“) auch ein Bruder von Moderator Solbakken sein könnte. Doch dann kommen sie: Die Songs, die den Song-Contest vor dem Titel „überflüssigste Veranstaltung auf diesem Planeten“ bewahren. Der Bukarester Beitrag, der schmierige deutsche Vorurteile über osteuropäische Frauen dankbar widerlegt, die Franzosen mit einem Lied, das ohne Nebensächlichkeiten wie Text oder Melodie auskommt (und uns sicher noch als WM- und/oder Sommerhit malträtieren wird), die Kritzeleien anjaulende russische Akademiker-Version der Kelly-Family, Armenien mit einem Lied über botanische Fertigkeiten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und Grinsedarbietungen, die von Zahnpastawerbung zu Zahnpastawerbung…

Beim deutschen Beitrag macht sich Erleichterung breit, zum ersten Mal seit 800 Jahren Grand-Prix-Geschichte keine Totalblamage. Der einzige zumindest einigermaßen „echte“, nicht völlig mit hanebüchenen Effekten überladene Song, wenn dieses Wort in diesem Zusammenhang verwendet werden kann. Das folgende Lied aus Portugal ist dankbarerweise ein einziges Fade-Out und auch der Rest der Beiträge fällt eher unter die Kategorie Sendepause. Im Anschluss darf Spanien dann wegen der oben erwähnten Störung und vielleicht auch um die Travestie komplett zu machen nochmal. Begleitend dazu Trash-Trivia: 1988 hat Celine Dion gewonnen. Für die Schweiz.

Doch diesmal gewinnt Deutschland, etwas, das seit den deutschfranzösischen Kriegen nicht mehr passiert ist. Und ist damit auf den ersten Blick souveräner Sieger mit dem einzigen zumindest ansatzweise ernstzunehmenden Beitrag in einer Show, die ansonsten genauso gut als Parodie hätte durchgehen können. Und während die Kamera über das endlose Publikumsmeer wandert, das scheinbar aus absolut nicht nachvollziehbaren Gründen teils quer durch Europa in einer der größten Hallen des Kontinents gereist ist, um sich diese bizarre musikalische Comedy-Show anzuschauen, wird schlagartig klar, dass der Grand Prix Eurovision de la Chanson, der Eurovision Song Contest genau das ist. Eine Parodie auf die Musikindustrie. Niemals ernst gemeint, weil sie einfach nicht ernst gemeint sein kann. Kein Mensch wird gesunden Verstandes behaupten können, dass beispielsweise die weißrussische Bühnenshow mit den absurden Schmetterlings-Engelsflügeln wirklich wirklich ernst gemeint war. Oder dass der türkische Beitrag etwas anderes war als die brillante Idee einer LinkinPark-Verarsche.

Das war er, der ESC: eine sympathisch- psychopathische Euro-Dancette, die zur Belustigung des Publikums alljährlich das Prinzip Pop durch den Kakao zieht – seine absurden Moden ebenso wie die endlose Mainstream-Glattbügelei der Charts. Und nicht zuletzt ist er der Urvater aller Casting-Shows, wo grottige Aspiranten dem wilden Publikum zum Fraß vorgeworfen werden. Nur die Deutschen haben das (zumindest in diesem Jahr) nicht verstanden.

Florian Mayer

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