Rezension

Wilco

The Whole Love


Highlights: One Sunday Morning // Art of Almost // Black Moon
Genre: Alternative-Country // Indie
Sounds Like: Billy Bragg // My Morning Jacket // Uncle Tupelo // Loose Fur

VÖ: 23.09.2011

Unglücklicherweise gehören sie ebenso zum Leben dazu wie all die schönen und angenehmen Dinge: Enttäuschungen. Ob in der Liebe oder in Freundschaften, im Beruf oder im Privatleben – leider sind sie allgegenwärtig. Aber damit nicht genug, auch in der Musik haben sich Enttäuschungen seit jeher eingenistet, sei es bei vorzeitigen Splits von Bands, bei miesen Konzerten oder bei Releases von neuen Alben. Eine der wenigen Ausnahmen bildeten jedoch hierbei bisher immer die Jungs um Wilco. Wer bei der Band aus Chicago in der Vergangenheit nach Enttäuschungen suchte, der wurde im wahrsten Sinne des Wortes enttäuscht. Keines der bisherigen Releases der Band um Sänger und Mastermind Jeff Tweedy war ein Flop. Selbst Alben wie “A Ghost Is Born“ (2004) oder “Sky Blue Sky“ (2007), die es nach dem fantastischen “Yankee Hotel Foxtrot“ (2002) wahrlich nicht einfach hatten, waren dann doch zu großartig, um sie letztendlich in irgendeiner Form als enttäuschend zu titulieren.

Alles andere als ernüchternd ist nun auch Wilcos neuestes Werk “The Whole Love“, das nach dem Vertragsende mit Nonesuch Records zum ersten Mal auf Wilcos bandeigenem Label dBpm releast wurde. Eine Veränderung, die die Band scheinbar sehr begrüßte, nicht anders lässt sich das Cover des Nick-Lowe-Songs "I Love My Label", die B-Seite der Single “I Might“, erklären. All denjenigen, die dachten, dass besagte Änderung unter Umständen verantwortlich für das möglicherweise erste wirklich schlechte Wilco-Album sein könnte, schiebt die Band im Prinzip schon mit dem Opener “Art Of Almost“ einen Riegel vor. Angereichert mit anmutigen Streichern, hypnotischen Loops und einem dub-ähnlichem Groove, dazu Jeff Tweedys zerbrechlicher Stimme und einem der irrsten Gitarrensoli ever, lässt der Song das Album fast schon so überwältigend beginnen wie einst "I Am Trying To Break Your Heart" auf “Yankee Hotel Foxtrot“.

Das psychedelische “Art Of Almost“ ist gleichzeitig auch der Auftakt zu einem der vielseitigsten und experimentellsten Alben seit “A Ghost Is Born“. So rückt bereits beim zweiten Track, der Single “I Might“, wieder der typische Wilco-Sound vermehrt in den Vordergrund und man fühlt sich schon fast ein wenig zurückversetzt in das Jahr 1999, als damals das Album “Summerteeth“ erschien.Einen anderen Eindruck erhält man dagegen wiederum beim Hören der wunderschön traurigen Ballade “Black Moon“, ein mit Cello und Violine angereichertes Stück, das mit den Zeilen "I was always right about the morning / I'm an old soul danced above the blades / Never stopped crawling / hold up black days / I'm waiting for you / waiting forever" erneut einen von scheinbar unzähligen Belegen für Wilcos Vielseitigkeit auf diesem Album liefert.

Und wer bis dato immer noch nicht von der Schönheit dieser Platte überzeugt wurde, wird dies dann aber spätestens bei “One Sunday Morning (Song For Jane Smiley’s Boyfriend)“, einem zwölfminütigen, atmosphärischem Stück, bei dem es Wilco gelingt, allein mit wenigen Akkorden und zurückhaltenden Beats einen Song zu kreieren, der so fantastisch ist, dass man ihn am liebsten in den Arm nehmen würde. Und dabei rührt einen Jeff Tweedy zutiefst mit seiner gleichzeitig präsenten wie zurückhaltenden Stimme und den Worten “Bless my mind I miss / Being told how to live / What I learned without knowing / How much more I owe than I can give.” So wird man am Ende des Albums zurückgelassen: überwältigt, berührt, sentimental, aber doch auch ein wenig glücklich – glücklich darüber, mit “The Whole Love“ nicht enttäuscht worden zu sein.

Benjamin Schneider

Hören


"I Might" im Stream

Finden


Bye-Bye



Am 5. Januar 2021 haben wir éclat eingestellt. Mehr Infos hierzu gibt es auf unserer Startseite!