Rezension

Titus Andronicus

The Most Lamentable Tragedy


Highlights: I Lost My Mind // Fired Up // Dimed Out // Come On Siobhan
Genre: Punkrock // Indierock // Pubrock
Sounds Like: New York Dolls // The Pogues // The Saints // Fucked Up

VÖ: 07.08.2015

„The Most Lamentable Tragedy“ ist eine Rockoper. Und schon läuft es dem Zuhörer kalt den Rücken runter. Wer die zu oft ausgespielte und verhasste Karte Konzeptrock zückt, schöpft oft aus der unschmackhaften Siebziger-Jahre-Konzeptrock-Suppe und muss sich dann vorwerfen lassen, seine Musik durch überhöhte Ambitionen gehörig versalzen zu haben. Eine Faustregel, die meistens zutrifft. Denn auf jedes „David Comes To Life“, mit dem Fucked Up vor vier Jahren auftrumpften, fallen mindestens drei „American Idiot“s, die für narrative Kunststückchen und plumpe Metaebenen musikalische Bandtugenden aufopfern. Eine schmale Gratwanderung. Titus Andronicus kommen zwar aus New Jersey, waren allerdings nie die sprichwörtlichen Average Joes von nebenan, die mit Liedern über den ganz normalen Alltag Verbrüderung erpressen wollten. Nachdem sie mit „The Monitor“ den amerikanischen Bürgerkrieg thematisierten, folgt nun die persönliche Tragödie: „The Most Lamentable Tragedy“ vertont den tiefen Sturz in Wahnsinn und Depression und die anschließende Rettung. Natürlich durch Rockmusik.

„The Most Lamentable Tragedy“ torkelt zwischen klassischen Punknummern, bierseligen Trinkliedern und Stippvisiten ins Hardcore-Genre hin und her. Titus Andronicus haben ihr abwechslungsreichstes und mutigstes Album veröffentlicht. Sicher, einiges bleibt dabei halbgar. Gerade der Beginn jagt zwar den Hans Dampf durch alle Gassen, ist aber dann doch nicht viel mehr als kraftmeierisches Gegröhle, welches mangelnde Melodiösität durch Intensität aufwiegen will. Über allem thront das mittig platzierte „Dimed Out“, welches es dann doch schafft, das Hauptanliegen dieses neunzigminütigen Geschwürs zusammenzufassen: Alles klingt nur dann gut, wenn es mit absoluter Hingabe getan wird. Deshalb funktioniert auch der wilde Genremix. Egal, ob mit „Fired Up“ Powerpop, „Look Alive“ Hardcore oder „Auld Lang Syne“ ein Traditional in Angriff genommen wird: Titus Andronicus tun es stets mit bedingungsloser Überzeugung. Nie klingen sie wie eine Band, die fremde Genres covert und dafür ihre eigene Identität verbiegt. Hier fidelt ein Haufen betrunkener Iren, dort hämmert ein Klavier – trotzdem bleibt es stets die gleiche Gruppe. Sicher, „The Most Lamentable Tragedy“ besitzt einen überspannten Rahmen, bei dem etwas zu oft der Verstand verloren wird. Als Sammlung größtenteils gelungener Einzelsongs funktioniert es nichtsdestotrotz.

Ähnlich wie der Namensgeber der Band, das frühe brutale Rachedrama von William Shakespeare, ist „The Most Lamentable Tragedy“ eine eigentlich ungeheuerliche Nummer. Ein Ungetüm, welches über 29 Lieder 90 Minuten lang durch sämtliche Rockgenres schwankt, stolpert und an seiner eigenen Ambition zerbrechen sollte. Und es dann teilweise auch macht und wohl zehn Lieder zu lang ist. Andererseits: Wer traut sich in Zeiten von ADHS, Spotify und fünfminütigem Ruhm überhaupt noch, einen solchen Golem zu erschaffen und in Plattenläden stapfen zu lassen? Gut gemeint und gut gemacht sind oft zwei Paar Schuhe. Das trifft zum Teil auch auf dieses Album zu. Obwohl einiges sicher der Schere hätte zum Opfer fallen können, muss man zumindest vor dieser Ambition andächtig den Hut ziehen und eingestehen, dass die Depression immerhin ganz schön dicke Früchte tragen kann.

Yves Weber

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