Rezension

The Paper Chase

Someday This Could All Be Yours


Highlights: The Common Cold // What Should We Do // This Is A Rape // The Small Of Your Back
Genre: Al(ptraum)ternative Rock
Sounds Like: ...Trail Of Dead // Shellac // A Whisper In The Noise

VÖ: 24.04.2009

Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhelllila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.

Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.
[...]

Die bunte Aster im verquollenen Körper, die blühende Pflanze in der verwesenden Leiche - wer an die Darstellung von Vermischung und Wechselspiel von Tod und Leben, von Schönheit und Hässlichkeit in der Kunst denkt, mag zuerst an "Die kleine Aster" von Gottfried Benn denken. Was dieser vielleicht bekannteste Vertreter des deutschen Expressionismus in der Lyrik vermochte und auch in der klassischen Musik keine Seltenheit ist, drückt eine Band in der Rockmusik so perfekt aus wie kaum eine zweite: The Paper Chase.

Okay: Auch im ersten Teil von "Someday This Could All Be Yours" tritt die Schönheit der Musik nicht gleich beim ersten Höreindruck hervor, sondern versteckt sich erst einmal ob der klanglichen Schrägheiten und Dissonanzen ängstlich unter dem Bett: Gitarren und Bass knarzen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, die Drums klatschen wie eine Reihe von Ohrfeigen mit Kettenhandschuh (bestes Beispiel: "What Should We Do") und selbst das Klavier - im allgemeinen Verständnis eigentlich als letzter Garant des Wohlklangs verstanden - hat nichts Freundlicheres zu tun, als bei "I'm Going To Heaven" eine Horrorfilmmelodie nach der anderen zu spielen, die auch Michael Myers dazu veranlassen würde, nachts lieber das Licht anzulassen.

Und wer sich dazu noch anhört, was für Themen John Congleton mal wieder besingt, mag es wirklich erst einmal aufgeben wollen, die metaphorischen Blümchen aus dem Körper des fetten Bierfahrers pulen zu wollen: "Someday This Could All Be Yours" ist ein Konzeptalbum über Naturkatastrophen - von Waldbränden bis zum Menschen an sich - und da es spontan nicht machbar war, den Leser vor Lektüre dieser Rezension glaubwürdig seine Volljährigkeit bestätigen zu lassen, sei anstelle genauerer Textproben einfach auf einige der Songtitel verwiesen: "Your Money Or Your Life". "This Is A Rape". Durch die wie immer fantastische Produktion Congletons (der immerhin schon für Künstler von Modest Mouse und Polyphonic Spree über Marilyn Manson und The Roots bis hin zu R. Kelly (!) an den Reglern saß) würde selbst der an die Thematiken der Songs herangeführt (und damit gebührend verstört), der der englischen Sprache nicht mächtig ist: Ängstliches Schweinegrunzen in "What Should We Do", ein schüchtern zum Beat fiependes EKG in "The Common Cold".

Doch obwohl das Album - so fantastisch es auch mal wieder klingt - im Ganzen ein bewährtes Hausmittel sein mag, um kleinen Kindern Angst einzujagen, hat eben auch "Someday This Could All Be Yours" wieder diese kleinen Stellen und Details zu bieten, die mehr Sonnenschein als Gewitter, mehr Lächeln als Horrorfratze sind. Zugegeben - manchmal müssen auch diese mit einer gewissen Ironie verstanden werden wie die fröhlich geschmetterte Lagerfeuerchristenliedeinlage "He's Got The Whole World In His Hands" am Ende von "The Small Of Your Back", und auch der glockenklare Refrain von "This Is A Rape" kommt nicht ohne entsetzte "OH GOD, OH GOD!"-Schreie im Hintergrund aus. Doch spätestens, wenn eine wunderschöne Streichermelodie das Ende von "What Should We Do" einleitet, zeigt sich wieder einmal, dass die schönsten Blumen manchmal an den hässlichsten Plätzen blühen und The Paper Chase letztlich mit einem Wort charakterisiert werden muss: POP. - Oder wie war nochmal das Geräusch, wenn ein Kopf explodiert?

Jan Martens

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