Rezension

The Decemberists

The Crane Wife


Highlights: The Crane Wife 1 & 2 // The Island/Come And See/The Landlord's Daughter/You'll Not Feel The Drowning // O Valencia // Sons And Daughters
Genre: Folk-Rock
Sounds Like: Arcade Fire // Okkervil River // Neutral Milk Hotel

VÖ: 02.02.2007

Es war einmal ein Mann, der lebte vor langer, langer Zeit. Er war arm, aber guten Herzens, und in einer bitterkalten Winternacht fand er auf einer Wanderung einen Kranich, der zitternd auf dem Boden lag und bitterlich schrie. Der Kranich war am Flügel verletzt und konnte nicht mehr fliegen. Der Mann hob den Kranich auf und verband seine Wunde, worauf der Kranich sich stolz wieder in die Lüfte erhob. Der liebe Gott schien die Barmherzigkeit des Mannes belohnen zu wollen, denn einige Zeit später lernte dieser ein wunderschönes Mädchen kennen, in das er sich verliebte und das er schließlich heiratete. Das Mädchen war eine sehr gute Weberin, sie saß in ihrem Arbeitszimmer an ihrer Spindel und webte und webte von früh bis spät, der Mann verkaufte, was sie webte, und beide lebten glücklich und wohlhabend.

Diese aus dem japanischen Kulturkreis entnommene Fabel ist eine der vielen Geschichten, die uns die Märchenonkel aus Portland, die Decemberists, auch auf "The Crane Wife" wieder erzählen. Piratenromantik wie noch in den Vorgängeralben spielt jedoch eine, wenn überhaupt, geringere Rolle. Stattdessen warnt ein besorgter Vater seine Kinder in "Shankill Butchers" vor den Mitgliedern der gleichnamigen protestantischen Splittergruppe aus Belfast, die in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nachts Katholiken entführten, folterten und schließlich töteten; "O Valencia" greift das altbekannte "Romeo und Julia"-Motiv der verfeindeten Familien auf, "When The War Came" schließlich schildert den Schrecken, den ein aufziehender Krieg über eine kleine Dorfgemeinschaft bringt.

Wenn eine Band sich also so sehr auf alte Mythen und historische Stoffe bezieht, wie es die Decemberists tun, dann ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie sich mit dem Folk aus dem musikalischen Genre bedient, das dem Geschichtenerzählen vielleicht am Angemessensten ist. So wird das Märchen von Mann und Kranich, das dem Album seinen Titel gibt und das in zwei Songs und drei Teile ("Crane Wife 3" und "Crane Wife 1 & 2") aufgeteilt ist, in drei der vielleicht schönsten Folk-Pop-Perlen verpackt, die die Decemberists je geschrieben haben, ähnlich ""Yankee Bayonet (I Will Be Home Then)", bei dem Collin Meloys seidiger Gutfühlgesang von der ebenfalls aus Portland stammenden Sängerin Laura Veirs begleitet wird. Doch da nach vier relativ ähnlich aufgebauten Alben Stillstand auch einmal Rückschritt bedeuten kann, beinhaltet "The Crane Wife" auch Ausreißer, die zunächst einmal zu gerunzelten Stirnen führen mögen, dann jedoch nicht weniger gefallen: So kommt der Familienfehdensoundtrack "O Valencia" in ungewohnter Up-Tempo-Manier daher, das funkige "The Perfect Crime 2" würde in James Browns Discographie musikalisch nicht sofort auffallen (textlich wahrscheinlich schon, aber hey), und dann erst das epochale "The Island/Come And See/The Landlord's Daughter/You'll Not Feel The Drowning": Ein zwölfminütiges Songmonster, in dem progrockige Strukturen und die bandtypischen verträumten Melodien unentwegt um die Vorherrschaft im Stück fechten.

Jeder, der gespannt war, ob die Decemberists auf "The Crane Wife" ihr hohes Niveau halten würden, kann also beruhigt sein. Wer hingegen nun gespannt ist, wie das Märchen des Kranichretters ausgeht: Der Mann, neugierig, wieso seine Frau die Webekunst so fein beherrscht, spioniert sie in ihrem Arbeitszimmer aus und entdeckt, dass seine Frau der verwandelte Kranich ist, den er einst gerettet hatte; sie verwandelt sich in den Vogel zurück, fliegt fort und der Mann ist wieder alleine. Eine Fabel also, die uns aussagt, dass man geliebten Menschen manchmal einfach vertrauen sollte. Genauso übrigens, wie man stets darauf vertrauen kann, dass die Decemberists nur zu wunderbarer Musik imstande sind. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schreiben sie die hoffentlich noch lange, lange Zeit.

Jan Martens

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