Rezension

The Decemberists

Picaresque


Highlights: We Both Go Down Together // Eli, The Barrow Boy // The Bagman's Gambit // The Engine Driver // On The Bus Mall
Genre: Indie-Folk Pop
Sounds Like: Belle & Sebastian // The Arcade Fire // Neutral Milk Hotel // The Smiths

VÖ: 05.09.2005

Da ist er, der richtige Mann für den Literatur-Bedürftigen Britt Daniel (der das neue Album seiner Band Spoon "Gimme Fiction" betitelte): Colin Meloy, Sänger und Songschreiber der Decemberists aus Portland, Oregon! Dieser singt nämlich im Refrain von "The Engine Driver", dem Herzstück der Platte: "And I am a writer, a writer of fictions/ I am the heart that you call home/ And I've written pages upon pages/ Trying to rid you from my bones". Geballte Lyrik also, und definitiv ganz besondere. Ob Liebesbekenntnis mit seltsam ironischem Unterton und tödlichem Ende ("We Both Go Down Together"), zwei im Bauch eines Walfisches gefangene Schiffbrüchige, von denen sich der eine im Auftrag seiner sterbenden Mutter am anderen rächen will ("The Mariner's Revenge Song") oder der ultimative Pechstag ("The Sporting Life"), an dem der Protagonist beim Fußballspiel vor dem ganzen Publikum versagt, damit die Hoffnungen seines Vaters und Trainers begräbt und auf dem Boden liegend seine Freundin mit dem gegnerischen Teamkapitän anbändeln sieht; Das alles klingt nach Theater und ist auch tatsächlich genau das - wie zum Beweis sind neben den Texten im Booklet Photos abgedruckt, auf denen die Mitglieder der Band als Schauspieler vor passenden Bühnenbildern die Szene des jeweiligen Songs darstellen.

So sieht man auf dem Cover von "Picaresque" den hoffnungslosen "Eli, The Barrow Boy" (auf dem Bild übrigens ein Barrow Girl), dessen Geschichte in einem der ruhigesten und berührendsten Lieder des Albums bloß mit der Akustikgitarre vorgetragen wird und so traurig ist, dass sogar der sonst meist blöd grinsende Baum eine bedauernde Miene aufsetzt (siehe Bild). Der arme Junge, der jeden Tag Kohle, Kerzenwachs und Dotterblumen auf seinem schweren Karren herumschiebt und verkauft, um seiner großen aber unglücklicherweise verstorbenen Liebe eines Tages ein schönes Kleid zu kaufen, wird schließlich eines Tages selbst tot im Fluss aufgefunden und in der Kirche begraben. Im Refrain singt Meloy aus der Perspektive des Jungen im Duett mit der Gastsängerin Petra Haden. Ein simpler Trick, zuletzt gehört (in dieser Art des zweistimmigen Gesangs in zwei verschiedenen, wundersam harmonierenden Tonlagen) wohl auf dem folkigeren neuesten Bright-Eyes-Album "I'm Wide Awake, It's Morning", wo Conor Oberst mit Emmylou Harris um die Wette trauert. Die sparsame Instrumentierung trägt noch zusätzlich zur Intimität bei, die ihren Höhepunkt im Auftritt des Akkordeons nach dem ersten Refrain findet.

Immer dann, wenn Meloy alle seine Mitspieler zur Ruhe bittet und alleine die Gitarre anschlägt, sind die Decemberists dem britischen Trio I Am Kloot nicht nur stimmlich (Meloy erinnert die ganze Zeit an deren Sänger Johnny Bramwell), sondern auch musikalisch recht nahe. So zu hören beim grandiosen Abschluss des Albums, "Of Angels And Angles", der einen von der Berg- und Talfahrt des mehr als 8-minütigen "The Mariner's Revenge Song" herunterkommen lässt. Letzterer macht dann auch endgültig klar, weshalb die Liste der Gastmusiker immerhin doppelt so lang ist wie die der Band selbst. Überraschenderweise wurde ausgerechnet dieses (gelinde ausgedrückt) großzügig instrumentierte Lied mit nur einem Mikro in der Mitte des Raumes aufgenommen, was einen sehr direkten, aber keineswegs billigen Klang zur Folge hat. Die Idee dazu kam von Produzent Chris Walla, der sich übrigens ebenfalls für die Aufnahme des neuen Albums "Plans" seiner Band Death Cab For Cutie verantwortlich zeichnet. Walla musste für "The Mariner's Revenge Song" lediglich die Kirchenorgel und die Vocals der Sängerinnen im Nachhinein aufnehmen. Der Rhythmus ist recht Polka-mäßig und das vom Barrow Girl Jenny Conlee gespielte Akkordeon verstärkt diesen Eindruck noch, was nicht jedem gefallen muss, nach mehrmaligem Hören des Albums aber auch nicht mehr weiter stört.

Denn in der Regel bevorzugt die Band entweder den schwingenden Pop, was "We Both Go Down Together" (inklusive herrlichem Streicher-Arrangement), "The Sporting Life" und die dem heutigen Amerika sehr kritisch gegenüberstehende erste Single "16 Military Wives" eindrucksvoll belegen, oder eben den deutlich melancholischeren Pop à la "The Engine Driver" beziehungsweise "On The Bus Mall". Also nochmal: Pop, Pop, Pop! Vor der Single befindet sich auf dem Album ein Lied, das, wenn man den Text der beiden Stücke betrachtet, gut aus der Sicht einer der "16 Military Wives" geschrieben sein könnte. Dieses Lied heißt nämlich wie die letzte Zeile des Refrains und der geht so: "Mr. Postman, do you have a letter for me?/ A letter for me/ From my own true love, lost at sea". Fünf der Damen erhalten jedoch nur einen weniger erfreulichen Brief vom Sergeant, in dem sie erfahren, dass sie ihre Gatten nie mehr wieder sehen werden.

Um nochmal auf die melancholischeren Pop-Songs zu sprechen zu kommen: Während "On The Bus Mall" abgesehen von dem ohnehin schlichtweg wegweisenden Songwriting insbesondere durch die Johnny-Marr-Gedächtnis-Gitarren überzeugt, ist es beim fünften Stück "The Bagman's Gambit" der unerwartete Tempowechsel, der neben dem Opener "The Infanta" exemplarisch für die Seite des Albums steht, die an The Arcade Fire denken lässt, welche auf ähnliche Weise nach dieser Verbindung aus klassischer Instrumentierung und modernem Indie-Pop streben. Und es gelingt beiden Bands hervorragend, was sich daran feststellen lässt, dass weder auf "Picaresque" noch auf "Funeral" ein Schwachpunkt auszumachen ist. Jene Verbindung der Stile ist es, die diese zwei Gruppen, die in keiner Sekunde irgendwelchen musikalischen Trends hinterherhecheln, so außergewöhnlich macht. Und genau das ist letzten Endes eben viel interessanter und nachhaltiger als sämtliche noch so erfolgreichen NME-Hypes zusammen.

Mario Kißler

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