Stell dir einmal vor, du triffst dich an einem Samstagvormittag mit ein paar guten Freunden zum Brunch in deiner sonnendurchfluteten Dachgeschosswohnung in Vieux-Montréal. Die Luft duftet schon nach Frühling und frischen Crossaints. Ein Freund hat etwas sehr Seltsames mitgebracht, eine kleine Schachtel, die er beim Renovieren gefunden hat. Darin ist neben einem kleinen Buch und etwas Blech-Spielzeug auch eine Kassette, die äußerst unleserlich von Hand beschriftet wurde. Glücklicherweise konntest du dich noch immer nicht von deinem alten Kassettendeck trennen und so legt ihr den raren Fund ein und beginnt zuzuhören.

So oder so ähnlich könnte es sich anfühlen, wenn man „North Americana“, das (mittlerweile nicht mehr ganz so) neue Album von Leif Vollebekk zum ersten Mal hört. In Kanada wurde das Album schon im Frühjahr 2013 veröffentlicht, aber die Songs waren schon eine lange Zeit vorher geschrieben. Vollebekks Perfektionismus war es geschuldet, dass der Prozess vom abgeschlossenen Songwriting bis zur fertigen Aufnahme über zwei Jahre dauerte und Leif und seine Band unter anderem nach Manhattan, auf eine Farm in Woodstock und in ein altes Herrenhaus in der Nähe von Paris führte. Und es war auch keine leichte Aufgabe, die Leif sich stellte, denn er wollte ein Album schaffen, das gleich beim ersten Hören altvertraut anmutet.

Und tatsächlich könnte „North Americana“ auch genauso gut ein Relikt aus den 1970ern sein, was jedoch keineswegs negativ gemeint ist. Die Mundharmonika in „Takk Sömuleiðis“ könnte auch von Bob Dylan stammen, und das Piano in „Pallbearer Blues“ lässt an die Behaglichkeit alter TV-Serien denken. Leif Vollebekk bietet auf „North Americana“ das dar, was man heute vielleicht als Singer-Songwriter-Musik bezeichnen würde, was in den Zeiten, aus denen die Songs zu stammen scheinen, jedoch schlicht als „Folk“ bekannt war. Wirklich schön ist es, dass Vollebekk es schafft, die Essenz dieses Genres, nämlich das Geschichtenerzählen, zu treffen – auch wenn diese Geschichten manchmal so schräg anmuten mögen wie die Beschreibung einer Wanderung auf dem berühmten isländischen Wanderweg Laugavegur: „A wildfire took down Rosenberg / And as it burned the kettled boiled / Fire, cold water, engines oiled / My coat was fat just like a goose“.

Sollte jemand auf die Idee kommen, eine Zeitkapsel anzulegen – entweder um einem Fremden eine Freude zu machen oder das spätere fremde Selbst melancholisch an die heutige Zeit zurückdenken zu lassen – so wäre „North Americana“ vielleicht nicht gerade repräsentativ für die frühen 2010er Jahre. Aber es wäre auch so viel schöner, irgendwann diese Musik wiederzuentdecken als so manches Radio-Gequäke, das so in dieser Zeit gefangen ist, dass man sich wohl schon im nächsten Jahr kaum mehr daran erinnern wird.

Christoph Herzog

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