Rezension

Die Nerven

Fake


Highlights: Frei // Roter Sand // Skandinavisches Design
Genre: Post-Punk // Punkrock
Sounds Like: Karies // Human Abfall // Joy Division

VÖ: 20.04.2018

„Fun“ markierte 2014 den landesweiten Durchbruch der Stuttgarter Band Die Nerven. Doch Zeiten ändern dich, das weiß sogar Bushido. 2018 heißt das vierte Werk der nach wie vor jungen Band daher „Fake“. Durchaus treffend in einer Gegenwart, in der digitale Avatare in den Kampf um möglichst viel Aufmerksamkeit ziehen und gezielt platzierte Fehlinformationen die Massen zu manipulieren versuchen. Andererseits mag man dem Titel doch nicht so recht trauen. Was, wenn dieser ebenfalls nur in die Irre leitet? „Fun“ war ja auch nicht gerade ein lustiges Album.

Wenn man denn unbedingt möchte, lassen sich auf „Fake“ ein paar lakonische Kommentare zum gesellschaftlichen Status Quo herauslesen, etwa über rastlose Selbstoptimierung und absurde Selbstinszenierung („Niemals“), über tatenlose Scheinheiligkeit („Frei“) oder eine fadenscheinige Nostalgie („Alles Falsch“). Das Album bewegt sich dabei stärker als zuvor an den musikalischen Polen der Band. Es kostet laute, ausufernde Momente aus, wie in „Frei“, und nimmt sich woanders die Ruhe einer langsamen Entwicklung („Roter Sand“). Schöne Produktionsdetails sind etwa, wenn am Anfang von „Frei“ Max Riegers Gitarre den Raum erbeben lässt oder Kevin Kuhns Drums in „Skandinavisches Design“ Luft aufwirbeln. Wer die stringente Führung und die Ästhetik der kalt-düsteren Vorgänger „Fun“ und „Out“ im Ohr hat, könnte sich angesichts der zwölf mäandernden Stücke auf „Fake“ wundern. Positiv formuliert klingt Abwechslungsreichtum hier nach Spielfreude und nach dem Versuch, den Song als solchen in den Mittelpunkt zu stellen, mit erhobenem Zeigefinger ließe sich auch von Ziellosigkeit auf Albumlänge sprechen.

Es drängt sich das Gefühl auf, dass die Charaktere Rieger, Knoth und Kuhn derzeit nicht die kongeniale Reibung und Spannung erzeugen, die Die Nerven bislang auszeichnete und die sie wahrscheinlich als eine der gegenwärtig begabtesten deutschsprachigen Punkbands auszeichnet. Dass alle Drei seit „Out“ (2015) solo unterwegs waren, hört man „Fake“ an. Jedes Mitglied scheint ein nicht unerhebliches Päckchen Ballast mit in den Aufnahmeprozess geschleppt zu haben, das manchmal schwer auf den Kompositionen wiegt und dazu führt, dass man weniger dem Kollektiv Nerven zuhört, sondern Songs, die an Riegers All Diese Gewalt oder Julian Knoths Peter Muffin Regiert Die Welt erinnern. Dies trifft nicht unbedingt auf Kevin Kuhn zu. Der hat sowieso viel zu tun (Karies, Wolf Mountains) und trommelt nach wie vor unbeirrt unkonventionell auf hohem Niveau.

Doppelter Boden hin oder her, auf „Fake“ klingen Die Nerven zuweilen seltsam gewöhnlich. Sollten spontane Assoziationen mit der Flensburger Band Echt („sag mal weinst du oder ist es der Regen…?“) nicht als störend empfunden werden, klingt dies durchaus charmant. Als Gesamtwerk steht das Haken schlagende „Fake“ jedoch deutlich in der Diskographie der Stuttgarter hintenan, da man ihre bisherigen Langspieler einfach nur als vollkommen, durchdacht und energievoll bezeichnen kann.

Ich frage mich beim Schreiben dieses Artikels also: „Bin ich der Einzige, der weint?“ Eine Frage, die sich Julian Knoth in der „Der Einzige“ ziemlich häufig stellt. Ein guter Song übrigens – und es ist vielleicht doch nur der Regen, der von meiner Nasenspitze tropft.

Jonatan Biskamp

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Doppelvideo zu den Songs "Fake" und "Frei"

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