Rezension

Deerhunter

Microcastle / Weird Era Continued


Highlights: Agoraphobia // Never Stops // Nothing Ever Happened // Operation
Genre: Indie-Rock + Shoegaze + Psychedelia + Krautrock = Pop
Sounds Like: Atlas Sound // No Age // My Bloody Valentine // Animal Collective // Liars // Neu! // Beach Boys // The Strokes // The Notwist

VÖ: 24.10.2008

"I wanted Microcastle and Weird Era to be a Fall / Winter record."

- Bradford Cox auf deerhuntertheband.blogspot.com

Da ist wohl was schiefgelaufen. Weder "Microcastle" noch "Weird Era Continued" - letzteres kann man nicht eindeutig zwischen Bonus-CD und zweiter CD eines Doppelalbums unterscheiden - sollten im Sommer geleakt werden, wie Deerhunter-Sänger Cox im August bedauernd bloggte. Wie war's passiert? Auf oben genanntem Blog lädt er regelmäßig neue Songs von Deerhunter und seinem Soloprojekt Atlas Sound hoch, kostenfrei herunterzuladen versteht sich; die Filesharing-Seite mediafire machte aber dummerweise auch seine privaten Dateien öffentlich zugänglich, und bald konnte jedermann das Album schon an heißen Sommertagen hören.

Was halt wirklich nicht so gut passt. Ein bisschen ist es so, als wäre The Notwists "The Devil, You + Me" im Mai veröffentlicht worden. Entspricht wohlgemerkt der Wahrheit. Eine Veröffentlichung im späten Oktober steht Deerhunters "Microcastle" hingegen hervorragend. Dabei fällt es schwer, die Musik einem bestimmten Genre zuzuordnen, genauso wie keine der obigen Referenzen wirklich den Titel "Sounds Like" verdient hat - aber das ist ja oft ein gutes Zeichen.

Generell bietet sich in so einem Fall wahrscheinlich ein Vergleich mit Animal Collective an, und im Fall Deerhunter hinkt der gar nicht mal. Im Mittelteil von "Microcastle" experimentieren die vier Musiker aus Atlanta mit verspielten Gitarren - Beispiel "Calvary Scars", das als einziges Lied des (Doppel-)Albums am Ende von "Weird Era" in einer zweiten Version zu hören ist -, mit verträumten Klavierläufen ("Green Jacket") und mit allerlei Geräuschen, die man keinem Instrument zuordnen kann. Was aus unerfindlichen Gründen zur Folge hat, dass man sich wie letztes Jahr bei Animal Collectives "Strawberry Jam" wie unter Wasser vorkommt.

Eine gute Voraussetzung ist auf jeden Fall, wenn man in der Stimmung für ein Herbst-Winter-Album ist, denn obwohl "Microcastle" eindrücklicher denn je beweist, dass Deerhunter im Grunde genommen Popmusik machen, klingt Cox' (und Pundts) Gesang grundsätzlich weiterhin melancholisch. Der Unterschied zum Vorgänger "Cryptograms", bei dem die eingängigeren Songs weiter hinten platziert waren, wird schnell deutlich, eben weil diesmal gleich zu Beginn auf das kurze, instrumentale "Cover Me (Slowly)" der Hit und Übersong "Agoraphobia" folgt, wegen dem weiter oben der Name The Notwist fiel. Wunderbar die ersten Zeilen: "Cover me, come for me, comfort me." Dass auf Position drei mit "Never Stops" ein ebenso hervorragender Popsong steht, unterstreicht das. Als würden die Strokes My Bloody Valentine covern, wobei es für so einen Vergleich schon starke Nerven braucht.

Was fehlt? Richtig: eine Erklärung, warum "Microcastle / Weird Era Continued" als Ganzes so großartig ist, dass es die zweithöchste Bewertung erhält und auch tatsächlich verdient. Da wäre zum einen festzuhalten, dass mit "Little Kids", "Microcastle", "Nothing Ever Happened" (!!!), "Neither Of Us, Uncertainly", "Twilight At Carbon Lake", "Backspace Century", "Operation", "Dot Gain", "Vox Humana" und "VHS Dream" einfach wahnsinnig viele Songs auf Highlight-Niveau aus Platzgründen um ein Haar keine Erwähnung in diesem Text gefunden hätten. Zum anderen darf man in Erklärungsnot - manchmal können Wörter eben nicht ausdrücken, was es bedeutet - ruhig auch auf das Artwork eingehen, obwohl es als Bewertungskriterium nur sehr bedingt taugt. Allein vom Cover schwärmt Jan Wigger die Hälfte seiner Rezension, freilich zu Recht. Der Totenkopf im Auge ziert inzwischen den Hintergrund meines Handys. Das ist die Jugend von heute... und Deerhunter die Musik von morgen.

Mario Kißler

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