Konzertbericht

Karnivool


Wenn eine Band sich ihre Vorbands aussucht, hat sie theoretisch zwei extreme Optionen: Sie könnte einen absoluten Alptraum als Support auswählen, damit sie im Vergleich hinterher für alle, die immer noch da sind, fast schon automatisch wie die neuen Beatles wirken – wer vorher im Eismeer schwamm, empfindet schließlich auch lauwarmes Wasser erstmal als brennend heiß. Anderer Pol: Eine wissentlich fantastische Band aufstellen, um das Publikum richtig in Stimmung zu bringen und sich dadurch auch selbst zu Höchstleistungen anzuspornen. Mögliches Risiko wäre dann, dass der Support den Hauptact an die Wand spielt. Eventuell gesunder Mittelweg: Wie Karnivool einfach beides machen!

Okay, Sturch als „absoluten Alptraum“ hinzustellen, wäre zum einen weder fair noch gerechtfertigt und zum anderen eventuell nicht gesund für den Autoren – wohnt dieser doch ebenso in der schönsten Hansestadt der Welt wie Sturchs leicht hyperaktiver Sänger, der auch ohne explizite Aggressivität leicht verstörend wirkt – denn wer ständig herumhüpft, durch die Menge rennt und Publikumsbeteiligung einfordert, erscheint nicht wie eine coole Frontsau, sondern zumindest in diesem Fall eher wie jemand, der mal dringend auf's Klo muss. Der Alternative-Rock à la Staind dahinter war zwar auf Dauer monoton, aber für sich genommen okay – auch wenn die überschwänglichen Lobeshymnen auf den großzügig verteilten Flyern nicht ganz nachvollziehbar waren, aber Experten wie der EMP müssen's ja wissen.

180°-Drehung dann von Sturch zu Murmansk, Hamburg zu Helsinki und einem extrovertierten Duracell-Männchen zu einer Band, die ihre Musik für sich sprechen lässt. Und zwar Aussagen wie „So wie wir könnten Isis klingen, wenn sie eine Frau am Mikrofon hätten – und hin und wieder Raketenantrieb im Arsch“. Es ist vielsagend, wenn der sich aufdrängendste Kritikpunkt die Prollo-Trainingsjacke der Sängerin ist – und noch vielsagender, wenn diese das einzige visuelle Element ist, das man in Erinnerung behält, weil man fast den ganzen Auftritt über die Augen im Rausch geschlossen hält. 

Und wo wir gerade bei SängerInnen sind – für alle, die sich nicht schon mal Bandfotos von Karnivool angeschaut haben, mag deren Frontmann den Preis „Sänger einer Band, den man sich am ehesten komplett anders vorgestellt hätte“ gewonnen haben: Wer Michael Douglas in „Falling Down“ gesehen hat, hat eine ungefähre Vorstellung des schlanken, bebrillten und leicht nerdig wirkenden Mannes, der sich etwas selbstironisch im Takt bewegt, aber dessen Stimme mehr an einen langhaarigen Frauenhelden denken lässt. Sein nach New Rock klingendes Organ mag auch der Grund sein, warum doch unerwartet viel Weibsvolk im Logo anwesend ist – und natürlich die Tatsache, dass Lieder wie „New Day“ trotz ihrer acht Minuten Länge auch für den Nicht-Progger richtige Hits sein können.

So ist es auch „New Day“, der durch – für das Genre eher ungewohnte – Singalongs im Publikum am deutlichsten aus einem ansonsten sehr heterogenen Set hervorsticht, das erfreulicherweise auch so einiges an älterem Material beinhaltet. Der Fokus liegt dann aber natürlich doch auf Karnivools Deutschland-Debüt „Sound Awake“, das vom eher hypnotischen Opener „Simple Boy“ bis zum zornigen „Set Fire To The Hive“ aber auch genug Abwechslung bietet, damit die Band knapp 70 Minuten lang ihr komplettes handwerkliches Potential zeigen kann. Nach dem abschließenden, epochalen „Change“ sieht man dann bestätigt, dass die Band live ebenso eine Macht wie auf Platte ist – und das nicht nur dank oder trotz irgendwelcher Vorbands.

Jan Martens, Gordon Barnard