Konzertbericht

Bon Iver


Vor einem Jahr sagten Bon Iver ihre Europatournee ab und es war – vor allem im Kontext der Vorgeschichte Justin Vernons – nicht wirklich klar: War's das? Nun kehrten Bon Iver zurück nach Berlin für ein exklusives Deutschland-Konzert, schlagen die Brücke zwischen Alben, Genres, sich selbst und dem Publikum und es wird klar: Das war's noch lange nicht!

Zehn Jahre ist es her, dass Bon Iver in Person von Justin Vernon die kleine Folkrock-Welt mit "For Emma Forever Ago" nachdrücklich erschütterte. Bis zum heutigen Tag. Der Einfluss der Platte geht weit über die Hitwerdung des fragilen und hauchzarten "Skinny Love" hinaus. "For Emma Forever Ago" war schon damals anders und nur ein Sprungbrett auf dem Weg des Justin Vernon in die große (Gefühls-)Welt zeitgenössischer Popmusik. Es folgte das selbstbetitelte Zweitwerk, Zusammenarbeiten mit Kanye West und James Blake und dann eine Pause. Depressionen. Angstzustände und Hoffnungslosigkeit aufgrund der neugewonnenen Öffentlichkeit. Vernon begann irgendwann wieder, diese Emotionen in Musik zu betten und brachte dann vor zwei Jahren den unerwarteten und doch folgerichtigen Kritikerliebling "22, A Million" heraus. Die Europatournee zum Album mussten Bon Iver dann jedoch aus "persönlichen Gründen" absagen und man befürchtete schon das Schlimmste.

Es ist kein Geheimnis, dass gerade jene Künstler, die ihr Innerstes vollständig in ihre Musik werfen, Gefahr laufen, sich emotional zu zerreißen. Kein Wunder also, dass die Max-Schmeling-Halle in wenigen Minuten ausverkauft war, als bekannt wurde, Bon Iver komme ein Jahr nach Tourabsage doch für ein einziges Konzert nach Deutschland. Wer weiß, ob man die Gelegenheit nochmal hat, so der generelle Tenor der aus allen Richtungen strömenden, sehr heterogenen Menschenmenge, die sich auch von gewöhnungsbedürftigen Mehrzweckhallen-Locations zwischen Mitte und Prenzlauer Berg nicht abhalten ließ.

Um 20.15 startet das Konzert mit "22 (Over Soon)" und noch bevor die letzten Töne des Songs verklingen, wird jedem der 10.000(!) Anwesenden klar: die Mehrzweckhalle wird heute garantiert kein Hindernis für Vernon und seine Mitmusiker darstellen. Und das ist auch die große Stärke dieser Songs. Sie könnten großer Radio- und Stadion-Rock sein, wollen es aber nicht. Der Platz, den sich die Musik nimmt, ist von Vernons Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und Zerbrechlichkeit vollständig ausgefüllt und man kann nun erahnen, wie verzehrend es sein muss, wenn die lückenlose, musikalische Aufarbeitung deines Seelenlebens nicht nur in einer Akustikgitarre ihren Ausdruck findet, sondern von einer riesigen Band (darunter zwei Schlagzeuger und drei Bläser) potenziert und ins Unendliche verlängert wird. Nach neun Songs ist dann erstmal Pause. 15 Minuten. Ein Narrativ in zwei Akten – jeden anderen würde man der Prätention bezichtigen.

Während in der ersten Hälfte vor allem Songs von "22, A Million" gespielt wurden, schafft Vernon es im zweiten Akt, auch Live mit "Perth" und "Holocene" die perfekte Brücke zwischen dem folkigen Erstling und dem genregrenzenlosen Drittling zu schlagen. Hier stimmt einfach alles. Im Spannungsfeld zwischen kleinen Folksongs und gigantischen Elektro/Post-Rock-Eskalationen zerreißt sich Vernon (und mit ihm seine Band) Stück für Stück selber. Bis es vorbei ist und Vernon ganz am Ende dann doch nochmal auf die Bühne kommt und sein Falsett sich zum letzten mal für "Calgary" und dann, natürlich, "Skinny Love" erhebt. Gänsehaut-Wahnsinn der ganz seltenen Art.

Die schiere Größe dieses Abends lässt sich rückwirkend vor allem an der Reaktion der Menschen in der Halle festmachen. Wohin man schaute: mit jedem Song ungläubigere Blicke, die Gesichter halb in den Händen versenkt, Bärte wurden abwesend gewuselt. Als könne man nicht fassen, was man da erlebte. Die 10.000 wollten so sehr da, im Moment, sein und dem sich so wahnsinnig aufopfernden Vernon etwas zurückgeben, dass selbst die obligatorischen Instagram-Stories an diesem Abend weitestgehend ausblieben. Erst zum Ende hin, als Vernon mit letzter Kraft die Zeilen seines einzigen echten Radiohits singt, gehen ein paar Handys hoch: "Come on skinny love just last the year...". Ein größeres, unausgesprochenes Kompliment kann man einem Künstler nicht machen. Puh!

Andreas Peters