Interview

The Dillinger Escape Plan


Nach mehrfach vereitelten Tourplänen sind The Dillinger Escape Plan endlich wieder in Deutschland unterwegs. Als Tourpartner haben sie die Stolen Babies und Poison The Well mitgebracht. Ein Triumvirat der Härte, das unterschiedlicher kaum sein könnte. Bassist Liam Wilson lädt zum Interview im nur gedimmt belichteten Hinterraum des Tourbusses und hat viel zu erzählen. Von Schlagzeugern, codierten Nachrichten und vom Free-Climbing an Wolkenkratzern.

Du bist jetzt schon wie lange in der Band, Liam?

Liam: Etwa neun Jahre, also seit 1999.

Damit bist Du eines der Mitglieder, das am längsten in der Band ist. Eure Band unterliegt ständigen Line-Up-Wechseln, Ben (Weinmann, Gitarrist) ist das einzige Gründungsmitglied, das noch dabei ist. Wie ist das mit diesem Bandkarussell? Ist es notwendig, damit ihr diese spezielle Musik, die ihr nun mal macht, aufrecht erhalten könnt? Oder ist es einfach nur Pech?

Liam: Beides. Manchmal, wenn sich unser Line-Up ändert, dann hat das einfach physische Ursachen. Andere kamen mit dem Touren nicht klar: Bis Ende April werde ich nicht nach Hause kommen. Zwischen Dezember und Mai bin ich maximal 19 Tage zu Hause, das kann schon mal hart werden. Und dann gibt es natürlich die künstlerischen Differenzen. So war es bei Chris (Pennie, Ex-Schlagzeuger der Band; Anm. d. Autors). Das sind so die Gründe, aus denen das passiert. Fünf Alpha-Männchen in einer Band, da kommt es mal zu Reibungen.

Wo du gerade über Chris gesprochen hast: Wie war das mit seinem Weggang? Es soll ja ziemlichen Zoff gegeben haben.

Liam: Schon. Diesmal waren die Spannungen zwischen Ben und Chris, den Gründern der Band, einfach zu krass und alles hat sich eruptiv entladen. Da kam die Sache mit Coheed & Cambria natürlich gelegen, das war so eine Art Rettungsboot für Chris und er ist abgesprungen. Wenn Du ihn fragst, wirst Du natürlich eine andere Antwort bekommen. Er wird vermutlich sagen, dass wir ihn behindert hätten. Wir haben ihm aber vielmehr klargemacht, dass er seinen Platz bei uns räumen muss, wenn er zu Co&Ca will. Am nächsten Tag riefen wir ihn an, weil wir proben wollten. Sein Anwalt ging ran: "Ihr belästigt meinen Klienten!" Das war schon ein ziemlicher Tritt in die Eier. Greg und ich hatten außerdem das Gefühl, dass er ein persönliches Problem mit uns hatte. Seit er weg ist, ist das Bandumfeld auf jeden Fall gesünder. Mit jedem anderen Ex-Mitglied aus der Band haben wir auch noch viel Kontakt. Dimitri singt auf Fix Your Face, Adam war auch bei den Aufnahmen dabei.

Ein anderes Ex-Mitglied ist ja auch Mike Patton. Du wurdest diese Frage vermutlich schon millionenfach gefragt, deswegen nur kurz: Konntet ihr Euch beidseitig etwas beibringen?

Liam: Ich denke schon. Also ich wünsche mir natürlich, dass er auf diese Frage mit "ja" antworten würde.

Also habt ihr noch Kontakt?

Liam: Klar. Anfangs hieß es noch "Oh, guten Tag, Mr. Patton." und später wurde das dann zu "Hey, Mike, what's up?". Wenn er in Philadelphia spielt, treffen wir uns auf der Show, wenn es eben passt. Es ist schon beeindruckend, zu sehen, wie er sich immer wieder zu Höchstleistungen treibt. Auf einem gewissen Level hat er auch ein krasses Ego. Andererseits ist er auch echt nett. Als wir unsere einzige Show mit ihm in San Francisco gespielt haben, auf der wir Justin Timberlake und Faith No More gecovert haben, meinte er beim Soundcheck: "Wow, Jungs. Warum hatte ich euch nicht vor zehn Jahren bei Faith No More?" Das war heftig, ich wusste kaum, wie ich das aufnehmen sollte. Es war natürlich ein Kompliment. Aber ich bin auch ein riesiger Faith-No-More-Fan. Und dann sowas zu hören...ziemlich krass.

Faith No More sind ja auch vielfach als Einfluss für "Ire Works" ausgemacht worden. Ein deutsches Magazin sprach von "Einer Hardcore-Version von 'King For A Day, Fool For A Lifetime'". Für mich ist "Ire Works" eure wütendste, wagemutigste und auch eure zusammenhängendste und einfach auch eure beste Platte. Stimmst Du dem zu?

Liam: (überlegt kurz) Ja, ich stimme zu. Wobei sie für mich wahrscheinlich aus anderen Gründen die zusammenhängendste ist. Sie ist einfach in einem Block entstanden und wurde nicht wie die zwei Platten zuvor durch ständiges Touren unterbrochen. An der Platte ist kein Fett. Für uns ist es definitiv unsere beste Platte.

Schön zu hören, da unheimlich viele Leute ja "Calculating Infinity" für das Non-Plus-Ultra halten.

Liam: "Calculating" ist einfach die bahnbrechendste gewesen. Aber Ire Works ist einfach das Beste, was wir damals im Sommer 2007 machen konnten. Der Zugang von Gil hat echt nochmal einen Schub gegeben.

Nun ist Gil ja auf "Ire Works" erst dazu gestoßen. Der Schlagzeuger ist in eurem Sound ja schon etwas Besonderes.

Liam: Gil haben wir über Chris Hornbrook (Schlagzeuger von Poison The Well, Anm. d. Autors) gefunden. Als die Drums schon etwa zu 90% arrangiert waren, kam Gil, komplettierte die Songs und trug sie auf 110%. Andere Tracks sind komplett von ihm. Horse Hunter oder Mouth Of Ghosts zum Beispiel. Wiederum andere wie Fix Your Face and Lurch standen eigentlich schon komplett, dann hat Gil aber noch ein bisschen damit herumgespielt. Gil ist beim Spielen eh etwas...(überlegt) humorvoller, verspielter als Chris. Musikalisch ist das schwer auszudrücken.

Nähern wir uns der Platte mal von außen: Das Cover besteht ja aus einem großen Dreieck. Die Frage kam wahrscheinlich auch schon hundertmal, aber: Es sieht ja schon wie Dark Side of The Moon aus? Hat das eine besondere Bedeutung?

Liam: Nicht wirklich. Als wir das Cover zum ersten Mal sahen, war uns die Parallele natürlich bewusst. Aber es gibt sicherlich schlechtere Referenzen (grinst). Wir wollten eigentlich mal ein minimalistisches, kontextloses Cover. Lass' Dich auf ein blaues Dreieck auf einem schwarzen Stück Papier ein – was lässt es Dich fühlen? Das war's. Später wurde hereininterpretiert, dass wir ja zu Zeit der Erstellung des Artworks auch nur zu Dritt in der Band waren. Da war ich schon verblüfft, denn unterbewusst hatte das sicherlich etwas damit zu tun. Und dann ist da ja noch der Code im Booklet. Der sollte Interaktivität auslösen.

Das wäre jetzt auch meine nächste Frage gewesen. Kannst du grob sagen, was der codierte Text im Booklet bedeutet?

Liam: Warte mal kurz, ich hole meinen Laptop. Im Prinzip wollten wir damit sowas wie "Fitter Happier" von Radiohead machen. Also, der ganze Text lautet übersetzt: "We have a symbiotic relationship with something which has disguised itself so as not to alarm us. You contain a trillion copies of a large textual document written in a highly accurate digital code. Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic. As if you could kill time without injuring eternity. It might not be true but these are necessary illusions. Just lie down on the floor and keep calm. If thought corrupts language, language can also corrupt thought. Wherever you go, there you are. This is a tour de force of misinformation disguised as fact."

Wow, okay. Das ist ja schon ziemlich poetisch.

Liam: (lacht) Was viele nicht wissen: "Just lie down on the floor and keep calm" ist ein Zitat von John Dillinger. Da sind ein paar kleine Details drin, die, wenn du sie verpasst, nicht weiter ins Gewicht fallen. Wenn du sie aber mitbekommst, hat das diesen Aha!-Effekt. Das gibt den Leuten ein bisschen was über die Musik hinaus.

Nette Idee auf jeden Fall. Gab es denn auch ein musikalisches Konzept zu "Ire Works"? Der Gedanke drängt sich ja förmlich auf, wenn man sich zum Beispiel "When Acting as a Wave" und "When Acting As A Particle" anhört.

Liam: Das, was du beschreibst, ist vielleicht so etwas wie ein kleines internes Konzept. "When Acting As A Particle", "Nong Eye Gong" und "When Acting As Wave" sind eine kleine Trilogie und bilden das Herz, die Drehachse der Platte. Aber eigentlich gibt es kein richtiges Konzept.

Das passt ja wieder zum Dreieck.

Liam: (lacht) Aber die Platte unterliegt genauso wenig einem richtigen Konzept wie ihr Titel. Ist auch nur ein kleines Wortspiel.

Zu Greg: Weisst du, ob er für Ire Works Gesangsunterricht genommen hat? Ich finde, er klingt angepisster und singt noch kraftvoller.

Liam: Nein, hat er nicht. Aber das ist für mich bei der ganzen Platte so. Ich finde zum Beispiel sogar, dass mein Bass auf Ire Works einfach sehr viel wütender klingt, so wie eine Kettensäge. Auf Miss Machine klang er mehr wie ein Rasenmäher. Das hat vielleicht mit der ständigen Übung zu tun. Soundcheck und Show sichern einfach ab, dass ich meinen Bass jeden Tag mindestens zwei Stunden in der Hand habe. Wenn man nur so zehn bis zwölf Stunden wach ist, ist das gar kein schlechter Prozentsatz.

Ire Works beeinflusst ja auch eure Liveshows, da ihr auf einigen Tracks Trompeten und Klaviere eingesetzt habt. Wie macht ihr das live?

Liam: Samples. Ist am Einfachsten und Billigsten. In einigen größeren Arenen können wir uns auch jemanden leisten, der das zusätzlich spielt.

Oder ihr nehmt mal einen eurer Tourbegleiter dazu. Ihr wart ja nun oft mit Poison The Well auf Tour. Seid ihr gute Freunde?

Liam: Ja, definitiv, wir haben noch viele andere Bandfreundschaften wie Converge, Mastodon, The Locust, Darkest Hour oder A Life Once Lost. Wir versuchen eigentlich immer mit denen zu touren.

Also gefällt dir auch deren Musik?

Liam: Nicht immer. Bei mir ist das zum Beispiel so mit Between The Buried And Me. Das sind supernette Jungs und mit denen zu touren macht einfach Spaß, deren Musik mag ich aber gar nicht. Sie sind gut in dem, was sie machen, aber es ist nichts für mich.

Vielen Leuten dürfte es mit euch ähnlich gegangen sein, als ihr letztens bei Conan O'Brian in dessen Late-Night-Show gespielt habt. Wie war das so?

Liam: Das war der Hammer! Eine coole Show. Und es war einfach mal großartig, dass unsere Mütter Backstage waren und uns so Sachen wie "Schnapp Sie dir, Tiger!" zugerufen haben. Echt witzig.

Würdest du jenen Auftritt auch als Indikator dafür sehen, dass The Dillinger Escape Plan einfach derzeit einen Popularitätsschub erfahren?

Liam: Sieht ganz danach aus. Da sind ja auch einige Songs wie "Milk Lizard", die in eine andere Richtung gehen. Ich schäme mich für diese Songs auch nicht. Es gibt immer Leute, die dann "Sellout" brüllen. Lass' sie brüllen. Ich will nun mal meinen Horizont erweitern, will sehen, wie weit es mit unserer Band gehen kann. Deswegen brauche ich auch keine Zweitband. Ich kann mit dieser Band alles umsetzen, worauf ich Lust habe. Das gilt auch für die anderen. Greg muss sich auch nicht dazu genötigt fühlen, die ganze Zeit zu schreien.

Ist das vielleicht das Problem, das Fans von Calculating Infinity haben: Du meintest ja schon, dass die Platte bahnbrechend war. Jetzt steuert ihr ja teilweise gegen diesen Sound an, um weiterzukommen. Aber ihr habt ja mit "Calculating" gewissermaßen schon den Mt. Everst bestiegen, indem ihr einen neuen Sound erfunden habt.

Liam: Das könnte man durchaus so sehen. Aber diese Leute wird es immer geben. Gut, du hast den Mt. Everest bestiegen. Aber jetzt willst du was Schwierigeres machen: Du kletterst auf ein Gebäude, das sogar noch höher ist. Dann kommen auch irgendwelche Leute und sagen: "Scheiße, die waren besser, als sie noch auf Berge geklettert sind." Super. Scheiß' drauf. Guck' dir Bands wie Slayer an. Wir lieben deren Musik. Aber die haben sich in eine bestimmte Ecke gestellt, sich festgefahren. Wenn die jemals 'nen Song rausbringen würden, der nur einen Hauch softer wäre als "Spill The Blood" - die Leute würden ausrasten nach dem Motto: "Was zum Henker ist mit Slayer passiert?!". Das wollen wir verhindern, indem wir unberrechenbar bleiben. Ich fühle mich als Musiker ohnehin in der Verantwortung, genau diesen Sound zu finden, den ich weder in meiner Plattensammlung noch auf Konzerten finden kann. Man ist gewissermaßen auf der Suche nach...(überlegt)

Einem Gefühl?

Liam: Ja, diesem einen Gefühl, das sonst noch niemand vertont hat. Ich meine, du kannst es wahrscheinlich nie zu hundert Prozent erreichen. Aber dieser Anspruch ist das, was dich anspornt. Du musst es versuchen.

Okay, die Stolen Babies spielen schon, also kommen wir langsam zum Ende: Wie lang wart ihr jetzt in Europa?

Liam: Seit Anfang Februar. Also etwa einen Monat.

Was hältst du vom europäischen Publikum? Ist es anders?

Liam: Es ist interessant, wie unterschiedlich es bisher überall war. In Dublin waren die Leute bekloppt und stockbesoffen, in Amsterdam völlig zugekifft und total ruhig. In Schweden waren sie sehr schüchtern, dann aber auch wieder total brutal. Das deutsche Publikum wirkt irgendwie steifer.

Echt? Viele Bands sind ja gerade auf Deutschland immer sehr gut zu sprechen, weil sie hier schnell Fuß fassen können. Aereogramme zum Beispiel meinten ja auch, dass sie die meisten Fans in Deutschland hatten.

Liam: Das liegt auch nicht immer am Publikum. Gerade hier sind einfach schon viele ärgerliche Sachen passiert. Einmal in Berlin hat sich der Veranstalter echt scheiße aufgeführt. Da gab es zum Beispiel für mich als vegetarische Mahlzeit eine grüne Paprika und ein Plastikmesser. Wir sind dann nach der Show einfach sofort abgehauen, sowas muss man sich nicht bieten lassen.

Aber sonst kommst du mit dem vielen Touren zurecht?

Liam: Zu einem gewissen Grad bin ich daran gewöhnt. Es nicht einfach, aber auch nicht mehr so richtig schwierig. Wir sind eben dafür geschaffen, das zu tun.

Das merkt man: Eure Live-Shows sind ja dafür berüchtigt, völlig extrem zu sein, da ihr auf der Bühne quasi Amok lauft. Da stellt sich die Frage: Wie haltet ihr das so lange aus?

Liam: Also erstmal trainieren wir ja schon allein dadurch, dass wir so viel touren. Aber darüber hinaus halten wir uns auch so in Form. Zwischen Soundcheck und Konzert heben wir schon mal Gewichte und trainieren, um unsere Kondition aufzubessern.

Ernsthaft?

Liam: Wir haben alle irgendwas, das absichert, dass unsere Batterien aufgeladen bleiben. Ich bin zum Beispiel totaler Yoga-Fan. Gil fährt total auf neijia (innere Martial Arts) ab. Wir ernähren uns gesund. Man muss da wie an einen Sport rangehen. Wir besaufen uns halt nicht ständig. Ein- oder zweimal im Monat trinken wir mal einen, aber regelmäßig wäre das auf keinen Fall drin. Wir sind eine ziemlich gesunde Band. Bei anderen Bands heisst das dann zwar "langweilig", aber hey: Wir konzentrieren unsere gesamte Energie eben auf diese Stunde jeden Abend, die wir auf der Bühne verbringen.

Eine Stunde später ist das kleine Logo mit der flachen Decke von einer Nebelmaschine zugeräuchert und der Blick auf die Bühne blockiert. Was dann nach den vier einzählenden Klicks der Drumsticks passiert, ist mit normalen Maßstäben der Konzertkritik nicht mehr messbar. Gitarren wüten wie tollwütige Schlangen über die Bühne, fünf Menschen rasen, spasten, wüten dazwischen, springen ohne Vorwahnung ins Publikum. Ein brutaler, aber präziser Sound und die geisteskranke Lichtshow zersägen die übrigen Synapsen, die diesem Hirnfick noch trotzen wollen. Das Publikum vor der Bühne rastet vollends aus. The Dillinger Escape Plan ist womöglich die einzige Band auf diesem Planeten, die für den letzten Satz dieses Interviews absolut uneingeschränkt einstehen kann.

Gordon Barnard

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Rezension zu "One Of Us Is The Killer" (2013)
Rezension zu "Option Paralysis" (2010)
Rezension zu "Ire Works" (2007)
Konzertbericht (2010)

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