Interview
Shearwater
Hallo Jonathan, wie geht's dir?
Jonathan Meiburg: Ich habe gestern einen Fehler gemacht: Als ich morgens um 8 Uhr aus New York hier angekommen bin, bin ich gleich zu Bett gegangen und konnte daher abends nicht schlafen. Jetlag...
Naja, du siehst trotzdem noch ganz fit aus! Ich würde gerne mit dir über "The Golden Archipelago" sprechen. Die vorhersehbare Frage zuerst: Hatte es irgendeinen Einfluss, dass dies euer erstes Album ist, seit du Okkervil River endgültig verlassen hast? Man könnte ja denken, dass es individuelle Fortschritte der zwei Bands einfacher macht, wenn sie keine gemeinsamen Mitglieder mehr haben.
Jonathan: Das dachten wir uns vor ein paar Jahren auch schon. Ich glaube aber ansonsten nicht, dass dieses Ereignis irgendeinen Einfluss hatte, abgesehen davon, dass ich dem Album mehr Zeit widmen konnte. Zwei verschiedene Tourpläne unter einen Hut zu bringen, war auch unmöglich, daher fühlte ich mich auch bereit, diesen Schritt zu machen.
Sind dir denn andere Unterschiede zwischen den Arbeiten an "Archipelago" und denen an früheren Alben aufgefallen?
Jonathan: Weißt du, ich versuche einfach, langsam, aber sicher immer bessere Songs zu schreiben. Aus Fehlern lernt man, und ebenso versuche ich zu lernen, meine Instinkte zu trainieren und ihnen zu vertrauen.
Das Thema des Albums sind Inseln und ihre Bewohner. Was war hieran interessant für dich?
Jonathan: Ich habe im Kontext meiner Arbeit als Ornithologe viel Zeit auf Inseln verbracht und sie dabei lieben gelernt. In meinen Tagträumen bin ich oft auf Inseln und so hatte ich den Titel "The Golden Archipelago" dann auch schon im Kopf, bevor ich mit dem Album angefangen habe, und ich wusste, dass ich diesen ausloten wollte.
Deine Liebe zu Inseln zeigt sich ja auch schon auf dem Albumcover. Es wirkt ja beinahe eskapistisch, wie die Reise zu einem besseren Ort, über dem die Sonne scheint.
Jonathan: Ja, findest du, dass sie wie ein schöner Ort aussieht, an dem du dich gerne aufhalten würdest? Das ist lustig, weil die Person, die eben ein Telefon-Interview mit mir geführt hat, die Insel als einen furchteinflößenden Ort gesehen hat. Ich selber stelle sie mir als irgendwie abschreckend vor. Vielleicht fuhr die Figur auf dem Cover schon lange, lange, lange über den Ozean, aber wenn sie dann diese Insel erblickt, hält sie vielleicht doch lieber inne. Abschreckend, oder zumindest ungewiss. Inseln sind solch kraftvolle Symbole für mich, was schon auf die alten Griechen zurückgeht, die auch Mythen von Inseln der Gesegneten und Inseln der Verdammten hatten, von Sirenen, die dich auf ihre Insel lockten...Ich wollte hier viele verschiedene Untertöne ausdrücken.
Shearwater wurden ja in Austin, Texas, gegründet, das ist rein geographisch ja das komplette Gegenteil einer Insel.
Jonathan: Ja. Das hat mich heute bisher jeder gefragt (lacht). Also, meine Heimat ist in Austin, aber Inspirationen kommen viel mehr durch Bücher, die ich lese oder Orte, die ich besuche, zu mir.
Ich höre oft von Musikern, dass ihre Heimat keinen Einfluss auf ihre Musik hatte. Glaubst du, das kann mit dem jeweiligen Heimatort zusammen hängen?
Jonathan: Hmmm....Ich komme ja auch ursprünglich aus Baltimore, habe eine Weile in North Carolina gelebt, ebenso in Texas und Tennessee....Also nein, ich denke nicht. Heimat ist aber auch nicht wirklich ein fester Ort, man kann sie in seinem Geist mit sich tragen. Natürlich fühlt man sich an manchen Orten mehr oder weniger wohl als an anderen, aber letztendlich besteht Heimat doch aus deinen Beschäftigungen und den Menschen und Dingen, die du liebst.
Ich habe gelesen, dass "Archipelago" als dritter Teil einer Trilogie konzipiert war... (Jonathan lacht leise in sich hinein) Was ist los, wieso lachst du nun?
Jonathan: Naja, das war nicht wirklich meine Idee, es so zu nennen, auch wenn es im Zusammenhang mit den letzten beiden Alben schon irgendwie passt, da ich eher eine Verbindung mit "Palo Santo" und "Rook" als allem, was wir davor gemacht haben, sehe. Ich habe es aber mal den dritten Teil eines Triptychons genannt, wie diese dreiteiligen Gemälde, die du in Kirchen findest. Es stand aber nicht schon vor drei Alben von vornherein fest, dass es der dritte Teil in einer Reihe werden sollte. Ich habe auch keine Ahnung, wie das nächste Album aussehen wird. Ich weiß nie, was von einer Platte zur nächsten passieren wird (lacht). Wirklich, es ist witzig, mein Verstand ist jedes Mal ein komplett weißes Blatt Papier. Ich suche nur in der Dunkelheit und nach langer, langer Zeit beginnen bestimmte Dinge, Gestalt anzunehmen.
Ob man es Trilogie nennen sollte oder nicht, du hast auch die Interpretation unterstützt, dass in den Alben die Auswirkungen des Menschen auf die Natur thematisiert werden. Welche Rolle spielt "Archipelago" dabei?
Jonathan: In "Palo Santo" ging es mehr oder weniger um die Sängerin Nico, die quasi in ihrer eigenen Insel ihres Verstandes gelebt hat, die ja tatsächlich auch auf einer Insel gestorben ist. "Rook" hatte viel mit menschlichen Auswirkungen auf die Welt der Natur zu tun. "Archipelago" behandelt mehr die unsichere Rolle der Menschen in eben dieser Welt, die wir verändern. Dafür seh ich Inseln auch als eine Metapher und die ersten Klänge, die du auf dem Album hörst, sind die Einwohner des Bikini-Atolls, die ihre Nationalhymne singen, die auf anderen Inseln im Exil leben, weil sie nicht zurück in ihre Heimat können. Dieses Thema – von der Heimat abgeschlossen zu sein und niemals zu ihr zurückkehren zu können – war auch eines, das ich auf dem Album hervorbringen wollte.
Aufgrund des Foto-Dossiers, das zum Album erscheint, fühlt sich "Archipelago" für mich auch noch mehr wie ein Konzeptalbum an.
Jonathan: "Konzeptalbum" ist ja auch kein so schlimmer Begriff; ich denke, Leute denken hier gerne an diese wirklich aufgeblasenen Alben mit ausgearbeitetem Plot, bei denen man das Gefühl hat, am Gängelband geführt zu werden, so wie "Reise zum Mittelpunkt der Erde" – auch wenn dieses Beispiel für sich genommen schon toll ist. Das mag ich nicht, ich möchte lieber ein Stück Kunst erschaffen, das einen emotionalen Bogen aufweist und dich von einem Platz zu einem anderen führt.
Wie denkst du denn, dass dieses Foto-Dossier dabei hilft?
Jonathan: Fast alle der darin enthaltenen Bilder stammen aus meiner eigenen Sammlung und zeigen Orte, an denen ich war. Ich wollte Bilder auswählen, die für mich eine Verbindung zu den Thematiken des Albums aufweisen, auch wenn ich diese Verbindung vielleicht gar nicht wirklich beschreiben kann, Themen wie Exil, Invasion, Gefangenschaft, aber auch Überleben, dem Anschein einer schrankenlosen Welt und dem plötzlichen Auftauchen ihrer Schranken. Daher sind einige Bilder von ausgestorbenen Tieren dabei, einige von den Aboriginee-Siedlungen, in denen ich für ein paar Monate lebte, als Söldner dort auftauchten und versuchten, die Einwohner herumzukommandieren – obwohl diese Leute schon seit mehr als 50.000 Jahren dort lebten. Es sind auch ein paar Bilder eines Bootes dabei – aktuell befindet es sich nur ein paar Kilometer von uns im Hamburger Hafen – die "Feuerland", die 1927 von einem deutschen Flieger namens Gunther Pluschow gebaut wurde. Mit diesem Schiff wollte er nach Feuerland fahren und einen Film darüber drehen, was er dann auch getan hat. Dort hat er das Boot dann verkauft, um seine Rückreise zu finanzieren und damit und mit einem Buchvertrag gutes Geld verdient. 1931 starb er dann bei einem Flugzeugunglück. Das Boot jedoch diente für lange Zeit als gewöhnliches Fischerboot in der Gegend der Falklandinseln, beinahe 80 Jahre. Vor ein paar Jahren wurde das Boot dann quasi gegen ein anderes Boot getauscht und daraufhin nach Buenos Aires verkauft, damit es restauriert werden konnte. 1997 habe ich bei einer Vogelstudie aber noch auf diesem Boot gearbeitet. Ich dachte aber auf jeden Fall, dass Plüschow, der mutige, aber auch unglaublich naive Abenteurer ein gutes Symbol für den menschlichen Wunsch wäre, jede denkbare Grenze überschreiten zu wollen – egal, ob das eine gute Idee ist oder nicht.
Hat das Boot noch einen sentimentalen Wert für dich?
Jonathan: Auf jeden Fall, ja. Ich wollte es mir heute oder gestern anschauen, aber hatte einfach nicht genug Zeit. Die Zeit auf diesem Boot hat mein Leben komplett verändert.
Du klangst eben auch richtig begeistert, als du davon erzählt hast.
Jonathan: Ja (lacht). Die Sache ist, dass mir alle der Bilder im Dossier wirklich wichtig sind, aber ebenso eine Verbindung zu dem haben, was das Album für mich bedeutet. Ich wollte dann aber auch keine lineare Narration dabei, die die Bedeutungen genau beschreibt, diese Entscheidung wollte ich dem Hörer über lassen. Ich finde, dass Alben die einnehmendste Kunstform sind, die es gibt, die dich dazu einladen, selbst darüber nachzudenken, was an ihnen wichtig ist.
War es dir wichtig, das Dossier verwirklichen zu können? Würde ohne es etwas fehlen?
Jonathan: Nein, nein, das war nur etwas, an dem ich Spaß hatte.
Es evoziert aber ja auch ein anderes Verständnis des Albums.
Jonathan: Ja, so denke ich auch darüber, dass das Album kombiniert mit dem Dossier eine etwas andere Bedeutung für dich haben könnte.
Da du soviel Arbeit da hinein gesteckt hast, wunderte ich mich, dass es von Shearwater überhaupt keine Musikvideos zu geben scheint, die das Gesamtkunstwerk ja auch noch ergänzen könnten.
Jonathan: Ich habe vor ein paar Wochen eins zu "Hidden Lakes" aufgenommen. Es wird gerade überarbeitet und ich habe noch gar keinen Schnitt davon gesehen, aber wenn es gut ist, werden wir es wohl öffentlich machen. Wir hatten ansonsten nie das Budget, um ein Video zu drehen, das irgendetwas mit Kunst zu tun gehabt hätte (lacht). Ich liebe jedoch Filme und würde gerne noch weitere drehen.
Was für ein Video würdest du denn machen, wenn dein Budget unbegrenzt wäre?
Jonathan: Oh mein Gott. Hast du jemals den Film "Die Russische Arche" gesehen? Er spielt im Eremitage-Museum in St. Petersburg und wurde komplett an einem Stück gedreht. Ich hatte einen Traum, in dem all diese Leute in kunstvoller Kleidung aus dem 17., 18. Jahrhundert auftauchten, die in etwas geführt wurden, das fast wie eine Arena wirkte und in der dann Tiere und so waren. Sie trugen alle schwarz und ich realisierte irgendwann, dass die Türen hinter ihnen geschlossen und sie dort für immer eingesperrt sein würden. Als würden sie von der Welt ausgeschlossen werden. Ich würde sehr gerne so ein Video drehen, aber das würde Millionen von Dollar kosten (lacht).
Vielleicht sollte auf euren nächsten Konzerten ein Hut herumgehen, damit Leute für dieses Video spenden könnten! Danke für das Interview, und schau dir auf jeden Fall noch die "Feuerland" an, wenn du die Gelegenheit bekommst!
Photo by Amy V. Cooper
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