Interview

...And You Will Know Us By The Trail Of Dead


Hannover-Allergie? Jason Reece und Autry Fulbright II kränkeln zwar beide etwas, erzählen uns aber trotzdem euphorisch von ihrem in Niedersachsens Landeshauptstadt aufgenommenen Album "Lost Songs", ihrer Wahlkampagnenparodie und der Anziehungskraft Rammsteins.

Ich würde gerne mit euch über "Lost Songs" sprechen. Ich kenne bisher nur "Up To Infinity" und "Catatonic", aber es scheint, dass sich das Album sehr viel deutlicher mit dem aktuellen Weltgeschehen befasst als vorherige Alben. Gab es da einen konkreten Anlass?

Jason: Aktuell wäre es fast schon fahrlässig, zu ignorieren, was um uns herum passiert.

Autry: Schon zu "Worlds Apart" waren solche Bezüge da, Reaktionen auf relevante Geschehnisse, vielleicht nur weniger offensichtlich. Der Titelsong dazu beschäftigte sich ja beispielsweise mit der US-amerikanischen Kultur.

Ist man als Künstler dazu verpflichtet, die Aufmerksamkeit seiner Rezipienten auf das zu richten, was in der Welt schiefläuft?

Jason: Ich denke, es gibt sowieso nur wenige Bands, die das nicht tun – na gut, abgesehen von diesen ganzen Mainstreamkünstlern, die Partysongs herausbringen und damit quasi eine riesige Nihilismus-Party feiern.

Autry: Man müsste manches ja schon fast vorsätzlich ignorieren, vieles bekommt ja jeder mit.

"Catatonic", der ja erst "Catatonic Youth" heißen sollte, beinhaltet Kritik an einer ganzen Generation Jugendlicher – aber ist es nicht ein alter Hut, ab einem bestimmten Alter auf der Jugend herumzuhacken?

Autry: Katatonie ist ja ein ganz bestimmtes Syndrom – man ist entweder sehr starr oder sehr schlaff. So etwas sehen wir gerade eigentlich viel mehr in der amerikanischen Regierung, viel Heuchlerei. Ich habe ja schon gesagt, dass manches eigentlich schwer zu ignorieren sein sollte, aber beispielsweise im Internet gibt es so viele Ablenkungen, dass es schwer ist, den Fokus zu bewahren.

Jason: Es ist sehr ambivalent zu sehen, wie viele Teile der Jugend einfach komplett uninteressiert an allem sind, was mit Politik zu tun hat. Ich kann mich noch erinnern, als ich in den 90ern ein Jugendlicher war – wir haben auf den Straßen gegen den Golfkrieg protestiert! Das hat vielleicht nichts gebracht, aber zumindest haben wir öffentlich kundgetan, dass wir in keinen Krieg ziehen wollten. Es gibt zwar immer noch Proteste, damals war das aber sehr viel umfassender. Es gab zum Beispiel auch die feministische Riot-Grrrl-Bewegung, die Sexismus in diversen Bereichen anprangerte. Wir waren wirklich JUNG damals! Diese Idee war so neu, dass starke Frauen gegen eine Regierung "losrockten", die sie nicht mochten.

Ich habe immer mehr das Gefühl, dass ihr von Politik im Allgemeinen die Nase voll habt. Daran muss ich auch bei eurer Wahlkampagnenparodie "Rich Dobney For Office" denken.

Jason: Damit machen wir uns etwas über Rick Perry lustig. Er war Gouverneur von Texas und wäre auch um ein Haar Präsidentschaftskandidat der Republikaner geworden, und es hielten sich Gerüchte, dass er ein kompletter drogenmissbrauchender, hurenliebender Partylöwe sei. Daher haben wir diese Parodie aufgenommen. Es ging uns hier nicht um seine Partei, er hätte auch Demokrat sein können – es ging mehr um eine kleine Verarsche korrupter Politiker, die dann auch das Thema des Musikvideos zu "Up To Infinity" sein wird.

Um einmal auf "Catatonic" zurückzukommen – der Song wirkt durchaus sehr "jugendlich", da er sehr aggressiv ist und sehr gerade nach vorne geht.

Jason: Das ganze Album ist sehr schnell, sehr Punkrock, sehr drängend, sehr aggressiv. Wir haben uns viele Bands aus den 90ern angehört, beispielsweise KARP, was für "Kill All Redneck Pricks" steht. Deren Alben waren so intensiv und energiegeladen, auf irgendeine Art auch Heavy Metal. Wir hatten irgendwie das Gefühl, dass diese Art von Musik heutzutage fehlt.

Autry: Genau, aktuell sind ja Stonerbands, die so eine Art 70s-Rock spielen, sehr beliebt. Daher wollten wir einfach ein Album machen, das auch wir uns gerne anhören würden – wobei das natürlich auf alle unsere Alben zutrifft.

Jason: Auf unserem letzten Album haben wir uns sehr stark mit Krautrock und allgemein progressiveren Strukturen befasst – Genesis, Kraftwerk. Diesmal gingen wir in die komplett andere Richtung. Dennoch knüpfen die beiden Alben recht gut aneinander an, aber das gleiche Album zweimal schreiben wollen wir eben auch nicht.

Der stilistische Sprung von "The Century Of Self" zu "Tao Of The Dead" war aber meiner Meinung nach deutlich größer als der zu "Lost Songs".

Jason: Wir verstehen unsere Alben immer als eine Abfolge von Trilogien, so wie bei "Herr der Ringe" (lacht). Aktuell wären wir dann wieder bei einem zweiten Teil. Für Conrad war "Tao Of The Dead" bereits eine eher traditionell orientierte Platte, verglichen mit denen davor. Selbst von diesem Punkt aus gesehen sind wir jetzt jedoch immer noch in einer Art Entwicklungsphase. Mittlerweile drücken wir alle vier unseren Alben unseren Stempel auf. Autry beispielsweise ist ja nun auch schon seit drei Alben dabei, hat auf "Century Of Self" bereits gesungen und bei "Tao Of The Dead" mitgeschrieben. So eine Band aus gleichberechtigten Mitgliedern, so eine Gang, wollten wir eigentlich schon immer haben, das war jedoch nicht immer der Fall.

Wenn man nur dich und Conrad nimmt, sind eure musikalischen Einflüsse ja schon divers genug.

Autry: Das stimmt, aber es gibt auch vieles, das wir alle mögen – KARP hatte ich ja schon erwähnt, Godspeed, Public Enemy ... Auch Krautrock wie Can ist ein kleinster gemeinsamer Nennen. Oder Kate Bush (lacht). Jason mag viele härtere Sachen, Conrad Klassisches, ich zum Beispiel deutschen Psychrock.

Jason: Wenn man darüber nachdenkt, sind wir wirklich in vielerlei Hinsicht von Deutschland beeinflusst.

Es gibt auch wohl nicht allzu viele ausländische Bands, die nach Hannover ziehen würden, um ein Album aufzunehmen.

Jason: Ja, das war eine sehr herausfordernde Idee. Wir wollten einfach mal aus Texas herauskommen. Für unsere letzte Platte zogen wir nach El Paso, was immerhin 10 Stunden von unserer Heimatstadt Austin entfernt war, so wurden wir zumindest nicht von unseren Freunden abgelenkt.

Autry: Die Atmosphäre in El Paso hat den Sound unseres Albums mindestens genauso sehr beeinflusst wie wir als Musiker. Conrad meinte dann, dass wir mal ein Album in Europa aufnehmen sollten, so hat uns dann das Label das Studio vermittelt. Der Name "Horus-Studios" gefiel uns natürlich auch, da wir sehr am Mythologischen interessiert sind. Ganz passend war auch, dass "Tao" ja auch "Weg" oder "Pfad" bedeutet und wir damit auch eine Art Weg weitergegangen sind.

Jason: Wenn man darüber nachdenkt, haben wir in Texas eine sehr deutsch klingende Krautrockplatte und dann in Deutschland eine sehr amerikanische Punkrockplatte aufgenommen (beide lachen).

Zum ersten Mal gibt es ja nun mit dem Titeltrack auch einen Song, von dem es auch eine deutschsprachige Version gibt.

Jason: Genau. Conrad hat einfach mal damit experimentiert. Die Beatles konnten das ja auch!

Stimmt, aber mich hat das mehr an schmalzige Schlagermusik erinnert.

Jason: Vielleicht schon, aber trotzdem war es gleichzeitig auch cool, sich die Zeit dafür zu nehmen, etwas in einer fremden Sprache aufzunehmen. Die Scorpions singen ja auch auf Englisch!

Müssen sie ja auch, wenn sie außerhalb Deutschlands gehört werden wollen.

Jason: Rammstein können auch Songs in zwei Sprachen aufnehmen! Die dürfen alles, die Amerikaner stehen ja auch sehr auf Rammstein.

Autry: Ja, bei denen kommt es aber wohl auch vorrangig auf die Show an. Die Musik ist da ja eher zweitrangig.

Ich muss nun noch eine der klischeebehaftesten Fragen überhaupt stellen und auf den Albumtitel eingehen: Inwiefern sind denn die "Lost Songs" verschollen?

Autry: Das Konzept war, dass es soviel Musik auf der Welt gibt, dass man sich manchmal fragt, ob auch alles gehört wird. Du kennst die Idee vom Baum, der einsam im Wald umfällt – hört ihn jemand? Ein paar der Songs basieren zudem auf Ideen, die wir schon vor langer Zeit hatten und die erst nun, in diesem speziellen Setting, verwirklicht werden konnten. Insofern sind es vielleicht eher gefundene als verschollene Songs.

Jason: Außerdem haben wir noch in den USA Demos von den Tracks aufgenommen und "Lost Songs" hatte noch keinen Titel, da er quasi nur eine vertonte Idee war. Daher war insbesondere er ein lost song, und auch einer der last songs, die wir geschrieben haben.

Autry: Eigentlich hätte "Lost Songs" also auch eher "Last Songs" heißen sollen. (lacht)

Dann hättet ihr aber sofort die Auflösungsgerüchte am Hals gehabt.

Jason: Genau, dann wäre es der Schwanengesang gewesen.

Eine letzte Frage, auf die mich wiederum "Catatonic" gebracht hat: Wenn ihr drei künstlerische Erzeugnisse – aus Film, Musik, Literatur... – wählen könntet, mit denen jeder Teenager einmal konfrontiert werden sollte, welche wären es?

Autry: Ein Film? "Metropolis". Da geht es wirklich darum, Sachen wahrzunehmen, die außerhalb deiner Selbst passieren.

Jason: Öhm. Was Musik angeht, wahrscheinlich "The Argument" von Fugazi. Die ist wahnsinnig eingeschlagen nach 9/11. Und ein Buch....Da wähle ich ein irgendwie merkwürdiges Buch, das aber auch einer Philosophie des Erkundens folgt: "A Cook's Tour" von Anthony Bourdain. Das war eines seiner ersten Bücher, er reiste um die Welt und hing einfach mit Menschen aller möglichen Kulturen ab. Im Amazonas zum Beispiel, oder Vietnam, oder Kambodscha. Diese ganze Idee, kein Tourist, sondern ein Einheimischer zu sein, finde ich toll. Aus einem ähnlichen Grund sind wir ja auch nach Hannover gegangen. Ein tolles Buch – es handelt natürlich viel vom Essen, aber auch viel davon, andere Kulturen kennen zu lernen.

Jan Martens

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