Festival-Nachbericht

Southside Festival


Der beste Moment nach einem mehrtägigen Festival ist doch für gewöhnlich die unvermeidliche Frage nach dem besten Auftritt. Da steht man dann mit seinem Sonnenbrand, hat geschätzte 20 Bands gesehen und hätte gerne noch zehn mehr, hat sich von anderen erzählen lassen, wie toll diese und jene waren, hat im Diskozelt zu viel getrunken, hat Leute durch Schlamm tauchen und anschließend andere umarmen sehen, ist bei einer Melonenexplosion in Deckung gegangen, hat sich über Stuhl- und Tischdiebe aufgeregt und feststellen müssen, dass ein Teil dieser Idioten auch noch aus den eigenen Reihen kommt – aber beste Band? Hm, keine Ahnung. Der Informationsüberschuss ist wohl nur selten so hoch, wie wenn man sich vier Tage mit 45.000 anderen auf einer Kuhwiese einsperrt. Da muss man sich erst einmal sortieren.

Also, Timetable zur Hand, wir rekapitulieren. Zuallererst sollte festgehalten werden, dass das Programm auf der Zeltbühne wegen eines tragischen Unglücks komplett ausfallen musste. Vor allem für Aereogramme-Fans war das ein ziemlich harter Schlag, da diese dort einen ihrer letzten Auftritte der Bandgeschichte spielen sollten. Ebenso hatten die unzählig angereisten Deichkinder bis zur letzten Minute auf eine Verlegung des Gigs auf eine der großen Bühnen gehofft, aber auch daraus wurde nichts.

Somit war der Freitag, der standesgemäß beim Southside Festival erst am späten Nachmittag beginnt und dieses Jahr, zumindest für meinen Geschmack, auch nicht gerade das beste Line Up bot, für viele ein Tag zum Ausruhen – oder sich anderweitig zu beschäftigen. Wer sich doch durch den Schlamm zu den Bühnen aufmachte, konnte mittelmäßige Manic Street Preachers sehen, die es tatsächlich schafften, einen Hit wie "If You Tolerate This..." viel zu schnell zu spielen und ihm dadurch komplett die Magie zu entziehen – aber die sonst natürlich genügend große Songs im Gepäck hatten, "You Stole The Sun From My Heart" sei da nur exemplarisch genannt. Danach hatten Incubus gehörige Soundprobleme, gefielen aber trotzdem dank einer hervorragenden Setlist, und Marilyn Manson zeigte, dass er genügend Horrorfilme gesehen hat, um mindestens eine halbe Stunde lang verschiedene Symbole daraus zu zitieren. Dreizack, Vollmond, Friedhof, tickende Uhr, davor er, sich ständig ausziehend und in den Pausen zwischen den Liedern wieder anziehend. Pornographie war in dieser halben Stunde nur spärlich zu finden. Kaum zu glauben, wenn man die Show von vor ein paar Jahren zum Vergleich heranzieht. Nicht, dass Marilyn nur so kurz gespielt hätte, aber man konnte sich doch ziemlich schnell satt sehen – und hören sowieso. Eine Umfrage zu späterer Stunde ergab übrigens noch, dass sowohl die Editors als auch Me First And The Gimme Gimmes auf der anderen Bühne sehr gut gewesen sein sollen. Man hätte es wissen können.

Sowohl Samstag als auch Sonntag entschädigten dank Sonnenschein und einer Großzahl an ausgezeichneten Auftritten für den etwas durchwachsenen Beginn. Freunde des gepflegten Tanzschrittes konnten schon mittags zu The Rakes und Eddie Argos - dem vielleicht bescheuertsten Frontmann seit Axl Rose - samt seiner Band Art Brut die Hufen schwingen. Wer sich lieber in tiefere Soundwelten vorwagt, war besser bei Porcupine Tree und Isis aufgehoben.

Im Anschluss war dann erstmal die Zeit für Legenden angebrochen. Sonic Youth legten ihren Schwerpunkt auf das aktuelle Album "Rather Ripped" und zeigten, dass deren Bandhöhepunkt keineswegs 20 Jahre zurückliegt. "Incinerate" und "Reena" heißen zwei der neuesten Hits und gehören mit zum Besten, was die Band je hervorgebracht hat. Thurston Moore sieht immer noch aus wie ein Student, Lee Ranaldo wie sein Professor, und Kim Gordon tanzt wie eine 20-jährige, die sich im Pillenschrank vergriffen hat. Neben dem Pop und den tollen Melodien bringt vor allem Thurston Moore einen deftigen Noiseanteil in das Set. Dazu schlägt er seine Gitarre gegen den Boden oder wälzt sich auf selbigem, die Gitarrensaiten dabei immer über irgendeine Bühnenkante schleifend. Dadurch wird es für den ungeschulten Zuhörer nicht gerade einfach, aber es macht den Moment, in dem die klaren Melodien wieder stärker nach vorne treten und Kim Gordon mit ihrer unvergleichlichen, zerbrechlichen Stimme in das Mikrofon haucht, nur noch umso intensiver.

Placebo, die danach auftraten, wirkten da schon viel mehr über ihrem Zenit. Erst als gegen Mitte des Konzerts ein Großteil ihrer neuen Songs heruntergespielt ist, knüpfen sie an vergangene, bessere Zeiten an. Zum Schluss jenen Samstags heißt es für mich noch alte Vorurteile überwinden. Pearl Jam ist der Headliner an diesem Abend und, bäh, wie ich ihn gehasst habe, diesen übertriebenen, pathos-geschwängerten Gesang, der sich durch Jeremy und andere Hits zieht. Aber, und das scheint die großen Bands der Musikgeschichte durchweg auszuzeichnen, irgendwann kriegen sie auch den Letzten. Und wenn nicht auf Platte, dann wenigstens Live. Ein wirklich toller Auftritt, der durch Josh Homme und seine Queens Of The Stone Age nicht mehr getoppt werden konnte. Auch hier muss man festhalten, dass "Songs For The Deaf" leider schon ein paar Jährchen her ist und wer ernsthaft behauptet, die beiden Nachfolgeralben seien auch nur annähernd so gut wie der 2002 erschienene Meilenstein, muss etwas auf den Ohren haben.


Photo Credits: HURRICANE/SOUTHSIDE Festival

Der Sonntag begann für mein kleines Grüppchen mit einer der lautesten Bands des Festivals. Schon aus sehr, sehr weiter Entfernung dröhnt uns das wahnsinnige "Friend Of The Night" entgegen. Jeder einzelne Song ist bei Mogwai wie eine Gewitterwolke, die sich langsam auftürmt, die Luft voll von Nebelschwaden. Man muss nur in diese Soundwelten eintauchen, und die Chancen stehen gut, dass man nie mehr an die Oberfläche kommt. Wie dieser Auftritt wohl nachts gewirkt hätte?

Im Anschluss kamen die wohl angesagtesten Bands auf die Bühne, die die Musikwelt momentan zu bieten hat. Arcade Fire machen den Anfang, zehn Kanadier, die munter ihre Instrumente wechseln, alleine Régine Chassagne spielt Drehleier, Akkordeon, Schlagzeug, Keyboard und singt. Und trotz der vielen Musiker und der vielen Instrumente klingt alles auf den Punkt, die "Intervention"-Orgel nach wie vor wie nicht von dieser Welt, der Übergang zwischen den letzten beiden Songs genial. Sowieso sollte nochmal festgehalten werden, wie großartig "Neon Bible" geworden ist. Mit Sicherheit nicht nur bei uns ein Anwärter auf das Album des Jahres.

Danach folgte ein schneller Wechsel zur anderen Bühne, wo Conor Oberst ganz in weiß gekleidet, mit langen Haaren und Pornobrille zeigt, dass Bright Eyes ein richtiges Orchester geworden sind - samt zweier Schlagzeugerinnen und noch mehr Streichern. Selbst ein klassisches Singer/Songwriter-Stück wie "First Day Of My Life" wurde in eine (sehr gute) neue Form gebracht. Trotzdem bleibt das Verhältnis vieler alter Fans zu den neuen Bright Eyes gespalten, "No One Would Riot For Less" großartig, ebenso "Four Winds", aber manchmal wünschte man sich dann doch den alten Conor zurück.

Für den dritten ganz großen Auftritt dieses Tages sorgten im Anschluss Interpol. Ein virtuos tänzelnder Gitarrist, ein Basser, der sein Instrument fast bis zum Boden hängen lässt und Paul Banks an Gitarre und Gesang, seine starre Miene nur hin und wieder für ein kurzes Schmunzeln verziehend. Selbstverständlich alle ganz in schwarz, nur Sam Fogarino am Schlagzeug mit weißem Hemd. Ähnlich perfekt wie das Äußere sind ihre Songs. Grund, daran für Liveauftritte etwas zu ändern, gibt es keinen. Außerdem vermeiden sie den weit verbreiteten Fehler, an den Anfang nur neue Songs zu setzen und danach altbekanntes zu spielen. Stattdessen eröffnen sie mit dem hervorragenden Opener ihres neuen Albums "Our Love To Admire", setzen in die Mitte und kurz vor Ende noch einen neuen und spielen sowieso eine Setlist, die kaum zu übertreffen ist.

Den größten Zuschauerzuspruch aller Bands schienen im Anschluss die Fantastischen Vier zu haben. Das verstehe, wer will, unsere Wahl Snow Patrol, die parallel auf der anderen Bühne spielten, erwies sich jedoch auch nicht gerade als Glücksgriff. Single-Band nennt man das wohl. Gleiches gilt übrigens für Jet am Vortag.

Alle, die danach noch genügend Energie hatten, konnten diese zum Festivalabschluss bei den Beastie Boys loswerden. Der Wechsel zwischen DJ und Liveinstrumenten wird ja mittlerweile bei vielen Hip Hoppern praktiziert, aber niemand sonst kann "Sabotage" ganz an das Ende eines Gigs setzen und damit die Leute nochmal komplett zum Ausrasten bringen. Sowieso spielen Genregrenzen hier keine Rolle mehr. Ob Punk, Hardcore oder Hip Hop, die Beasties spielen, was ihnen gerade einfällt – und das seit mittlerweile 28 Jahren.

Und so war es auch schon wieder Sonntag Nacht, der Regen meldete sich zurück, und wir begaben uns mit unserem Auto direkt in den Stau an der Parkplatzausfahrt und fragten uns "Was war denn jetzt eigentlich die beste Band? Hm, keine Ahnung."

Matthias Kümpflein

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