Festival-Nachbericht

Reeperbahn Festival


"Kultur erlebbar machen" sei das Motto, sagte ein Verantwortlicher des Reeperbahnfestivals im Hamburger Lokalfernsehen. Drei Tage, über 200 Acts, etwa 20 Locations. Als "neues und einzigartiges Musik-Event" kündigte es die zentrale Pressemitteilung im Mai 2006 an, was ja schon mal insofern gelogen ist, als dass die ganze Kirmes eine Kopie eines ebensolchen alljährlichen Projekts der texanischen Stadt Austin ist. So weit, so fern liegend das alles, aber zumindest gibt man die Lüge zu.

Mit dem Abstand von zwei Wochen lassen sich jedenfalls zwei Dinge feststellen. Zum einen hat das Reeperbahnfestival gehalten, was seine Veranstalter – u. a. die Konzertagentur Karsten Jahnke – versprochen haben. Das Fest hat erlebbare Kultur geboten, es waren über 200 Künstler und Bands, von denen die meisten sogar wussten, was eine Gitarre ist, und ob der Begriff "Kultur" in ihrer Sprache mit "K" oder "C" geschrieben wird. Dass ein Fazit dennoch zwiespältig ausfallen muss, liegt begründet in grundsätzlichen Fehlern bei der Planung durch die Veranstalter und in einer mangelnden Bereitschaft des Publikums – der Hamburger, der Norddeutschen, Schluffis und Weichspüler, ihr wisst ja – dieses Angebot, Kultur zu erleben, anzunehmen. Na, hätten die mal uns gefragt. Anders formuliert: Die Idee ist gut, doch die Welt (Hamburg inklusive Organisation und beteiligten Clubs) noch nicht bereit. Falsche Stadt? Wohl kaum, denn welche Stadt hat mehr Musiker und Bands hervorgebracht als die alte Reissack-Hanse? Eben.

Dieses platte Zitat dort oben führt übrigens nebenbei direkt zu einem der am meisten umjubelten Gigs des Festivals und zu einem der Headliner. Die Top Old Boys von Tocotronic zogen bei ihrem "letzten Heimspiel für eine lange Zeit" so viele Menschen ins Grünspan, dass die Türsteher nicht einmal mehr Pressevertreter hineinließen. In Russland sagt man dazu: "Wer zu spät kommt, den..." Auf Russisch natürlich. Ähnliches Interesse bei einer weniger rigorosen Türpolitik erregten der gnadenlos überschätzte und doch nicht schlechte Paolo Nutini am Nachfolgetag und die Sam Ragga Band am letzten Abend. Im Gegensatz hierzu spielten sehr viel mehr Künstler vor fast leeren Clubs. Weder Chikinki noch Matthew Herbert noch Bernd Begemann schafften es, ihr Potential auszuschöpfen. Ebenso wenig die bezaubernden Erdmöbel, die den Rhein gegen die Elbe anstinken ließen – ein Fest. Besonders erstaunlich ist, dass Lokalmatadore wie Begemann oder Blumfeld das Publikum ebenfalls nicht zum Kiez zogen. Da wundert es nicht mehr, dass eben Chikinki, Radio 4, Jahcoustix oder Erdmöbel leicht gefüllte bis fast leere Hallen beschallen durften oder mussten. Smoke Blow hat das allerdings nicht weiter gestört. Die Rotzlöffel machten aus der Not eine Tugend und wenn das Docks so leer sein musste, dann wenigstens die Bühne nicht. Kurzerhand wurde die Hälfte der Audienz zum Moshen hoch geholt. Ein fröhlicher Spaß für groß – und eher weniger für klein, denn klettere erstmal da hoch, Alter. Die Figurines wiederum durften sich bei wenigen Besuchern zumindest über viel Prominenz freuen. 80% der Leute spielten in einer Band, die meisten davon bei Revolverheld.

Doch womit lassen sich die mangelnden Besucherzahlen begründen? Zum einen kann festgehalten werden, Werbung für das Festival fand nur in begrenztem Maße statt, wobei dies u. U. nur Ausdruck eines schleppenden Vorverkaufs und nicht seine Ursache war. Alles andere hätte vielleicht genervt, wer weiß das? Zu bezweifeln jedenfalls, dass in anderen Städten was zu hören war vom Iwänt. Ein weiterer Grund für die nicht stattgefundene Invasion mag das Ding namens Popkomm gewesen sein, das parallel in der osteuropäischen Provinz "Berlin" stattfand. Hinzu kommen, bzw. als Hauptgrund können wohl überhöhte oder nicht jedem nachvollziehbare Ticketpreise genannt werden. Knapp 80 Euro (zum Frühbucherpreis zehn Einheiten weniger) für ein dreitägiges Festival mit 200 Künstlern erscheint nicht überhöht. Bedenkt man die Entfernung zwischen den zwanzig Locations und die "relative" Größe der auftretenden Künstler, dann ... Anders formuliert, wirklich besuchen konnte man an drei Abenden kaum mehr als ein Dutzend Auftritte. Wenn darunter drei größere Acts (z.B. Nils Landgren, The Rapture, Blumfeld, Radio 4, Tocotronic, Bernd Begemann, Patrice, Blackmail, Blumentopf, Dendemann) mit etwas kürzeren als normalen Konzerten – sagen wir á 20 Euro – waren, dann konnte man sich glücklich schätzen. Doch diese Rechnung, was kann ich wirklich sehen für mein Geld, wird viele Menschen abgeschreckt haben. Wenn tatsächlich nur etwa 700 Festival-Tickets im Vorverkauf abgesetzt wurden, hat die nachträgliche Verfügbarkeit von Tages- und Venue-Tickets – also Karten für einen einzigen Club an einem Abend – zumindest für eine Relativierung des Besucherproblems geführt, da es endgültig dann doch 9000 zahlende Gäste wurden. Nimmt man all die Schnorrer – soll heißen Künstler-, Medien- und Businesspartner – hinzu, muss das Reeperbahnfestival wohl tatsächlich als relativer Erfolg bezeichnet werden.

Dies gilt umso mehr als sogar in fast leeren Clubs (u. a. Jahcoustix, Marnie, Saint Pauli) eine gute bis sehr gute Stimmung herrschte, auf jeden Fall bei der Mehrzahl der – in diesen Fällen wenigen – Besucher, aber in den drei angeführten Gigs eher auch bei den Künstlern. Dass Bernd Begemann versucht, 75 Besucher so zu unterhalten wie 750, ist selbstverständlich, und wenn das spontane Änderungen der Setlist erfordert, egal. Wenn also selbst Künstler, die eigentlich frustriert sein sollten, sich amüsieren, relativieren sich Aussagen wie "Die Idee ist gut ..."

Kultur nahe bringen, hieß sicherlich wirtschaftlich vor allem, Werbung für Künstler/Acts/Bands, Bookingagenturen und Clubs zu machen. Insbesondere bezogen auf Veranstaltungsorte gelang dies. So konnten Prinzenbar und Mandarin Kasino sich wieder in den Vordergrund spielen, Studio One und Fliegende Bauten sind Neuentdeckungen. Ähnlich erging es den auftretenden Künstlern. Wo Leilanautik es nicht schafften, das, durch ihren Hamburg gewidmeten Song "Tausend Kilometer", geweckte Interesse zu rechtfertigen, konnten überraschenderweise Clueso und Band gleich zu Beginn des Festivals mit ihrem Deutsch-Soul-Funk-Keimzeit-Rap selbst bei anspruchsvolleren Besuchern für Stimmung sorgen. Genau wie Wolke, die hatten vor erstaunlich vielen Besuchern spaßige Time-is-running-out-Probleme, gespickt mit guten Songs. Zu den wirklichen (Live-)Neuentdeckungen gehören Katze aus Berlin und Erdmöbel aus Köln, oder aber Plokk, ganz besonders aber Boy Omega aus dem Norden und Battle aus dem UK.

Battle veröffentlichen zur Zeit auf dem Label, dessen Macher mit The Rakes, Bloc Party, Regina Spektor, Mystery Jets, Young Knives, The Subways, Pipettes, Ladyfuzz und Duels gearbeitet – bzw. diese zum Teil entdeckt – haben. Also ihr wisst schon und so. Wenn ihr Manager früher ebenfalls für Bloc Party arbeitete, deutet im Grunde alles daraufhin, dass Battle das nächste große Ding aus dem UK werden. Wir ducken uns lieber. Und ihre Musik passt zu diesem Versprechen. Zu unserem auch. Einzig Ihr optisches Spießertum steht dem im Wege. Was aber vielleicht noch das kleinste Übel ist. Vier Nobodies, die weder als modische Trendsetter noch als Modejünger gelten können, werden in den optischen Medien – Musik-TV und NME – sicher nicht die Beachtung erhalten, die andere forschere Acts bekommen.

Allein wegen Battle war das Reeperbahnfestival ein persönlicher Erfolg, der auf eine Wiederholung hoffen lässt. Am besten nur mit 100 Bands in 10 Clubs, aber ruhig an 3 Tagen, bitte mit etwas niedrigeren Eintrittspreisen, dann dürfen die großen Namen kleiner und die kleinen Acts ruhig etwas größer sein. Am Ende braucht Ihr Mr. Happy Thees & The Sunshines nicht zweimal spielen lassen und schon gar nicht für lau. Die Kids kommen auch ganz von allein! Okay Cpt. Jahnke?

Konstantin Kasakov, Oliver Bothe

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