Festival-Nachbericht

Open'er Festival 2010


Es gibt diese Tage, in deren Verlauf man merkt, dass es ein Fehler war, morgens aufzustehen, die Wohnung zu verlassen und die Dinge des Tages anzugehen. Irgendetwas ist an diesen Tagen gegen einen, man weiß nicht was es ist, aber es ist da. Einer dieser Tage war der 1. Juli 2010. Das besonders erschwerende an diesem ersten Juli war: Es ist der Aufbruchtag zu einem Festival, einem im Ausland noch dazu. Sicherheitshalber Ausweis anschauen – seit drei Tagen abgelaufen. Der Zubringerzug für eine knapp siebenstündige Zugfahrt – Triebwerksschaden – die voraussichtliche Fahrzeit verlängert sich gerade um vier Stunden, während man unausgeschlafen morgens um 8 am Berliner Ostbahnhof steht. Guten Morgen, liebe Sorgen. Irgendwie reicht es mit ein wenig Gerenne dann doch für den Zug in Polen – ohne Fahrschein, ohne Zloty, ohne Polnischkenntnisse – zum Glück greift die bekannte Gastfreundlichkeit der Polen, dies mit Händen und Füßen zu erklären. Angekommen auf dem Festivalgelände führt eine nicht geschriebene Email zu mehrstündigen Diskusionen um einen Campingplatz. Nachdem dann kurz vor 18 Uhr das Zelt steht, folgt die Erkenntnis, dass ein Jahr Lagerung dieses in einen quasi unbewohnbaren Zustand versetzt hat. Die Lösung des Problems wird auf die Nacht verschoben. Jetzt erst einmal Festival. Bands sehen, ein Stück der Glücklichkeit der Massen abgreifen, die Zeit genießen. Immerhin das Wetter hält. Der erste Juli ist ein angenehmer Sommertag.

Kaum ein Künstler ist besser geeignet, eine Untermalung für laue Sommernächte zu liefern, als Ben Harper. Mit einer Slidegitarre auf dem Schoß eröffnet er mit einem sehr langen Solo seinen Auftritt, der sich von träumerischen Momenten zum einem mitreißenden Rockauftritt entwickelt. Ein Duett mit Eddie Vedder gibt einen Vorgeschmack auf die Band, für die ein Großteil des Festivalpublikums angereist ist: Pearl Jam. Entsprechend begeistert werden die Grunge-Helden empfangen. Anfangs kaum wahrgenommen, im späteren Verlauf des Konzertes jedoch immer deutlicher von Belang: Neben dem vertikalen Wellenbrecher vor der Bühne wurde dieses Jahr auch noch ein horizontaler angeschafft, dieser allerdings ist links und rechts offen. Als sich Vedder mehrmals um das eng gedrängte Publikum in den ersten Reihen sorgt, bittet er dies, ein paar Schritte nach hinten zu gehen, was dazu führt, dass die Securities alle Hände voll zu tun haben, abgedrängte Menschen am hinteren Wellenbrecher herauszuziehen. Von diesen Vorfällen und dem soliden, aber nicht überzeugenden Auftritt der Band etwas stimmungsgetrübt, findet man sich wenig später bei Tricky im Zelt wieder.

Mit Unterstützung für die weiblichen Gesangsparts bietet der Alt-TripHopper ein Best-Of-Konzert. Dessen Höhepunkte sind die begleitende Lasershow, Trickys‘ Ausflüge in die Reihen der Fans und die Aufforderung an das Publikum, gemeinsam mit den Musikern auf der Bühne zu tanzen, was hundert Menschen wohl das Festivalerlebnis ihres Lebens beschert. Körperlich angreifend wirkt die Zugabe: Gefühlte Ewigkeiten mantraartig widerholende Gesangs- und Soundmuster sorgen für dringendes Schlafbedürfnis. Dem können auch Groove Armada nichts mehr entgegensetzen, 80er-Pop kann ein Uhr morgens kaum noch mitreißen.

Die Organisatoren des Open‘er scheinen die Reize des Festivalumfeldes in die Planuung einfließen zu lassen. Die späten Anfangszeiten des Bandbetriebes gegen 17/18 Uhr laden jedenfalls dazu ein, sich den Rest des Tages den wunderschönen Stränden und Steilklippen der angrenzenden Ostsee zu widmen. Da zudem das mehrtägige Komasaufgelage und der extreme Geltungsdrang der Besucher insbesondere deutscher Festivals wegfällt, entsteht die kaum denkbare Verknüpfung von Musikevent und Erholungsurlaub. Allein deswegen würde sich die Anreise lohnen.

Der zweite Festivaltag bot eine musikalische Zeitreise durch die letzten drei Jahrzehnte. Neben der 80er-Ikone Grace Jones konnte man sich den jugendlichen Aufsteigern von Empire Of The Sun widmen, oder staunen, wie es Cypress Hill schaffen, mit nur einem einzigen Beat und Thema seit 20 Jahren erfolgreich zu sein. Die Auftritte der polnischen Ska-Funk-Rock-Band Lao Che und Mando Diao am frühen Abend sorgen für ausgelassene Stimmung, der Massive Attack schlussendlich die Krone aufsetzten. Schon allein deswegen, weil es im Vorfeld des Konzertes zu einem seltenen Ereignis kam: Klassik auf einem Großfestival. Um an den 200. Geburtstag des berühmtesten polnischen Komponisten zu erinnern, gab es live eine Kostprobe aus dem Schaffen Frédéric Chopins.

Als Festivalhighlighttag soll sich dieses Jahr unerwarteterweise der Samstag herausstellen. Wenn es eine Indieband der jüngeren Geschichte verdient hat, allerorten Headliner zu werden, dann sind dies eindeutig Kasabian. Einen solchen mitreißenden, alle Besucher ergreifenden Auftritt gab es selten. Durch Einsatz eines wunderbare Solos spielenden Trompeters, unbändige Spielfreude und ein jede Sekunde feierndes Publikum wird dieses Konzert unvergesslich. Ebenso einnehmend sind die Auftritte von Hot Chip, die zehntausende nach Mitternacht zum Tanzen bringen und des Gorillaz Sound Systems im halboffenen Zelt. Letztere präsentieren einen Mix aus DJ-Set und Liveband, zwar ohne Unterstützung des prominenten Damon Albarn, dafür mit riesigen Projektionen der Comicband auf eine vor die Bühne gehängte Leinwand. Den Anwesenden ist es egal, wer dort auf der Bühne weilt, die Mischung aus Elektro, Dubstep, Rock und Reggae lässt niemanden ruhig herumstehen. Wenn es eine Band für die ultimative Party gibt, dann wohl diese.

Wie schaffen es eigentlich Besucher, Festivals durchzustehen, die eine Woche und länger dauern? Selbst das entspannte Open’er sorgte am vierten und letzten Tag für deutliche Ermüdungserscheinungen trotz teils beeindruckender Performances. Waren die Kings Of Convenience im Zelt zwar ziemlich gewöhnungsbedürftig bis langweilig und der Auftritt der Hives ein einstündiges Exempel dessen, wie manche Künstler ihre Arroganz ausleben müssen, wussten die Bands des späteren Abend mehr zu überzeugen. Die als Headliner gesetzten The Dead Weather stießen sämtliche Projekte Josh Hommes locker vom Wüstenrock-Thron und zeigten sich spielfreudiger und interessanter als Jack Whites Hauptband The White Stripes. Zu später Stunde wummerten die Bässe Archives durchs Zelt, auch dies ein absolutes Highlight des Wochenendes. Die im Vorfeld große Überraschung hervorrufende Verpflichtung von Fatboy Slim als Abschluss geriet leider ein wenig blass – Norman Cook verstand seinen Auftritt eher als DJ-Set, auf dem wenig eigenes, dafür umso mehr durchschnittliches aus den 90ern präsentiert wurde.

Wenige Stunden später, halb 6 morgens: Noch immer ist der Abreisezug vom Gelände nicht abgebrochen, die letzten Kräfte werden für den Heimweg gesammelt, am Bahnhof versuchen viele, vor dem Zubringer gen normales Leben wenigstens ein bisschen Schlaf mitzunehmen. Anstrengend mögen sie gewesen sein, die letzten vier Tage. Und doch sieht man in schlafenden Gesichtern so viele glückliche Züge und Emotionen, die zeigen: Wir sind auch nächstes Jahr wieder hier.

Klaus Porst

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