Festival-Nachbericht

Iceland Airwaves 2012


Mögt ihr warme, kuschelige Pullis in eisigen Winden? Raue Landschaften, rote Holzhäuschen? Hinterhöfe, die mit wunderbaren Überraschungen aufwarten? Prima, dann mögt ihr einen kleinen Ausschnitt aus dem, was das Iceland Airwaves so zu bieten hat. Ob euch der Rest auch gefällt, könnt ihr im Folgenden herausfinden.

Das Festival fängt eigentlich schon im Flieger nach Reykjavik an. Vom Gate ("Moment – steht da wirklich Reykjavik? Und wir steigen da jetzt ein?") in die Boeing, am Board-Entertainment in eine der zahlreichen verfügbaren, bisher nicht bekannten isländischen Bands reingehört, für sehr gut befunden. Kurzer Gegencheck im Icelandair-Magazin: Juhu, die Band spielt (natürlich) beim Festival. Vor uns im Flieger das Pärchen, das schon am Check-In-Schalter tuschelte, dass man sich jetzt sicher eine Woche lang ständig sehen wird. Und so ist es dann auch.

Das erste Mal läuft man sich am ersten Festivalabend im Theater Iðnó über den Weg. Dort gibt es zum perfekten Festivaltag einen vom islandspezialisierten Berliner Label "Morr Music" organisierten Abend zu bestaunen. Nachdem die Zwillingsschwestern Pascal Pinon einen putzigen und schönen Auftakt mit ihren kleinen Schwestern auf der Bühne hinlegen, spielt Soléy Stefansdottir einen guten Auftritt vor auffallend stillem Publikum, der leider aber etwas kurz gerät. Nachdem die isländische Spaßkapelle Prins Polo, denen man anmerkt, wie witzig sie erst sein müssen, wäre man der isländischen Sprache mächtig, unterhaltsam aufspielt, sind Sin Fang an der Reihe. Leider ist Sänger Sindri etwas gestresst von der knapp bemessenen Auftrittszeit und hetzt durchs Set, das Konzert verliert so den üblichen Charme seiner Musik. Finale des Abends ist der Auftritt FM Belfasts, die mit ihrem Elektro-Pop, der live einfach nur großen Spaß macht, die kuschelig warme Atmosphäre zum Explodieren bringen.

Das Iceland Airwaves füllt fünf Tage lang wahrlich nahezu jeden Winkel der nur 120000 Einwohner fassenden isländischen Hauptstadt mit Musik. So gibt es neben dem offiziellen Schedule, sozusagen dem Abendprogramm, den sogenannten Off-Venue-Schedule, welcher beim besten Willen nicht zu fassen ist. Werden am Abend "nur" circa zehn Venues bespielt, so sind es am Tage bis zu vierzig, darunter Modeläden, Buchhandlungen, wunderschöne Cafés (Tipp: Kaffibarinn), Hinterhöfe sowie die glitzernde Bar auf der oberen Ebene des beeindruckenden Konzerthauses Harpa, dessen größere Säle abends offiziell bespielt werden. Zu diesem Haufen an Venues kommt ein riesiger Haufen an Musikern der eng verstrickten lokalen Musikszene, welche teilweise in zig Bands mitspielen. So sah man den Schlagzeuger Magnús Trygvason Eliassen stets auf dem Weg vom einen Gig zum anderen mit seiner Beckentasche um die Schulter durch die Peripherie flitzen, dann auch noch spannende internationale Newcomer, Musik aus allen Genres und ein Haufen musikliebhabender Verrückter aus aller Welt. Das zusammen ergibt einen glückseligen Kuddelmuddel, der Tage lang durch und über die Stadt wabert.

Den unsrigen Teil des Kuddelmuddels verschlägt es am nächsten Morgen nach dem Frühstück zu einem der Festivalhighlights – Ólafur Arnalds im Kex Hostel. Vor riesiger Fensterfront mit Blick auf das Meer und die erhabene Gebirgslandschaft kann es wenig Schöneres geben als diese Musik, auf anfängliche Bitte des Künstlers im Sitzen genossen. Wenig später spielen an selber Stelle Apparat Organ Quartett, eine isländische Band aus drei Hammond-Orgeln und einem Schlagzeug – wer diese Instrumente benutzt, hat es schwer, nicht gut zu klingen. Später am Tag flasht der Bedroom-Community-Mr. Ben Frost mit seinen dunklen Geräusch-Variationen in der gemütlichen Kaffibarinn, welche für das gesamte Festival vom Schlafzimmerlabel besetzt ist und noch einige fantastische Gigs zu bieten haben wird, allen voran der rappelvolle Gig Sam Amidons, der Probleme mit dem Flieger hatte und gerade so rechtzeitig in die Stadt gepurzelt kommt. So übermüdet er ist, so gemütlich präsentiert er sein wundervolles Songwritertum. Probleme mit dem Flieger hatten – in derselben Woche tobte Hurricane Sandy an der nordamerikanischen Ostküste – übrigens so einige, darunter die Headliner Swans, welche nicht anreisen konnten.

Weitere Highlights bilden die Off-Venue-Gigs der finnischen Band Rubik. Nach dem Akustikgig im "Nordic House" geht es spontan weiter zum "normalen" Gig im Hinterhof einer Bar. Mit ihrer Kreativität, Spielfreude, Sympathie und ihrem Abwechslungsreichtum weiß die Folk-Pop-wasever-Band schwer zu begeistern. Im Restaurant Reykjavik am Hauptplatz gibt der dort aktuell hochpopuläre isländische Songwriter Ásgeir Trausti, stimmlich nah bei Justin Vernon, ein schönes Konzert – eines von acht. Hier spielt dann auch endlich der im Flugzeug bereits entdeckte Borko einen famosen und sympathischen Gig, bei dem nach und nach noch Bandmitglieder eintrudeln, um aus der anfangs dreiköpfigen Band eine am Ende sechsköpfige zu machen.

Am Freitagabend wird es in den drei Sälen der Harpa spannend, dort spielen haufenweise interessante Bands wie die isländische Post-Rock-Band For A Minor Reflection, das Apparat Organ Quartett auf großer Bühne, Ólafur Arnalds im Dunkeln und zum Abschluss eine erneute, noch größere Party mit FM Belfast. Für so einen Abend nimmt man gerne den Kampf mit dem Wind in Kauf, in Reykjavik tobte während des Festivals fast drei Tage lang der stärkste Sturm seit zehn Jahren – inklusive abgedeckter Dächer – und hier unten am Meer ist die Fortbewegung besonders schwer und wirklich nahezu unmöglich. Zum Glück zeigt die Natur sich für die Mühen versöhnlich, indem sie den Himmel mit Nordlichtern schmückt.

Am letzten Hauptfestivaltag – am Sonntag wird das mit Spannung erwartete Headlinerkonzert von Sigur Rós im Mittelpunkt stehen – spielen Daughter ein magisches und unvergessliches Konzert in der rappelvollen Fríkirkjan. Später weiß die Reykjaviker Supergroup Mr. Silla mit Mitgliedern von Múm, Seabear u.a. in der Harpa leider nicht vollends zu überzeugen. "One Step" ist ein großartiger Song, der Rest plätschert mitunter vor sich hin. Einen versöhnlichen Abschluss bilden die isländischen Elektro-Pioniere GusGus. Keine Band würde an diesem Punkt besser passen, war sie es doch schließlich, die vor mittlerweile 13 Jahren die Grundidee zum Festival hatte.

Und dann ist er auch schon da, der langerwartete Sonntag. Sigur Rós in Reykjavik. Ein Tag, an dem man vor dem Aufstehen noch einmal durchatmet. Leider kann der Gig die hohen Erwartungen nicht erfüllen. Die Band spielt in einer großen Sporthalle etwas außerhalb, welche genau passend gestaltet ist. Sie ist komplett schwarz abgehangen, die Bühne in der Mitte komplett mit Teppich ausgelegt, mystische Musik läuft, und ab dem Betreten stellt sich ein wohliges Gefühl ein. Leider lässt die Band eine Stunde auf sich warten und prüft so die Geduld vieler, die vielleicht nicht einhundertprozentige Liebhaber sind und das Konzert mitnehmen, weil es eben stattfindet. So ist die Stimmung später zu keinem Zeitpunkt überschwänglich, die großartigen Songs werden allenfalls mit verhaltenem Applaus honoriert. Sigur Rós auf der Takk-Tour vor sechs Jahren waren völlig ungreifbar, man wusste gar nicht, was auf der Bühne passiert. Dieser Gig hier ist sehr menschlich – musikalisch, songtechnisch sehr gut, aber nicht fantastisch. Sigur Rós, aber leider ohne das dazugehörige Gefühl, welches die Band zu großen Teilen ausmacht. Die Band scheint einen Gang zurückzuschalten, etwas zu fokussiert und zu wenig losgelöst spielen sie ihre Songs einer grandiosen Setlist, welche alle Highlights früherer Alben vereint. Sie sind eben – auch wenn das eine Floskel ist – auch nur Menschen, und vielleicht war die Erwartung – Headliner des Festivals, erstes Konzert in der Heimat seit vier Jahren – einfach zu hoch, die Aufregung der Band zu groß. Doch das sind nur Spekulationen. Wie gesagt – das Konzert ist keinesfalls schlecht, aber die Band kann das auch noch viel besser und viel magischer.

Die Erlebnisse einer großartigen Woche kann das jedoch keinesfalls trüben. Ein Festival, welches wohl das Paradies für reiselustige Musikliebhaber ist. Fünf Tage, welche sich die Waage aus Inspiration, neuen Entdeckungen und großartigen Gigs bereits bekannter Acts in den schönsten und ungewöhnlichsten Venues wunderbar halten. Mit jedem Cent seine Reise wert. Wer Appetit bekommen hat: Tickets für 2013 sind bereits erhältlich. Do it!

Absolut positiv: Es werden, im Vergleich zu vielen anderen Festivals, nicht zu viele Karten verkauft. Aufgrund der Erfahrungswerte aus den Vorjahren waren wir am Anfang extrem früh an den Venues, sind aber zum Festivalende hin immer entspannter geworden, bis man zum finalen Samstagabendgig von GusGus in der Harpa kurz vorher noch locker hereinkam. Relativ pünktlich da zu sein hat, wenn es nicht das allerkleinste Off-Venue mit dem allerheißesten Scheiss war, eigentlich immer gereicht.

Es gibt jedoch einen großen Fehler, den man auf keinen Fall machen sollte: Erst Mittwoch anreisen, und Montag wieder abreisen. Wer schon die weite Reise nach Island antritt, der sollte sich auch mindestens ein bis zwei Tage Zeit nehmen, um sich mit diesem magischen Land und seinen Bewohnern zu akklimatisieren. Die Sinne wollen geschärft werden, sonst kann das Festival schnell im Rausch der Überforderung an einem vorbeiziehen. Absolut zu empfehlen ist ein mitunter wirklich günstig zu mietender Wagen. Mit im allerwahrsten Sinne der Worte unglaublichen und unfassbaren Eindrücken wartet die Vulkaninsel schon kurz nach dem Verlassen Reykjaviks auf, einen besseren On-Schalter für die Welle der Glückseligkeit und entspannten Zufriedenheit der folgenden Tage gibt es nicht. Man tritt für dieses Festival eine Reise an, und sollte es auch als solche behandeln.

Tipp: Hier gibt es eine Menge Videos aus dem Kex-Hostel, unter anderem die gesamten Auftritte von Ólafur Arnalds und FM Belfast.

Daniel Waldhuber

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