Festival-Nachbericht

Iceland Airwaves Festival


Ihr dachtet, die Festivalsaison sei schon längst vorbei? Falsch gedacht! Als Nachzügler macht das Iceland Airwaves Festival jedes Jahr so etwas wie den Schlussakkord im so langsam winterlich werdenden Reykjavík. Hunderte von Bands in Hunderten von Locations. Wer das nicht miterlebt hat, hat richtig was verpasst... oder liest unseren riesigen Nachbericht.

"Warum tragen hier eigentlich so viele Menschen diese roten Armbändchen, wofür sind denn die?" fragt mich mein mit den Füßen wippender, älterer Sitznachbar während wir im Wohnzimmer unseres gemeinsamen Hostels einen Tag vor offiziellem Festivalbeginn einem kleinen Konzert lauschen. Er habe nur ganz zufällig von dem Konzert erfahren und wisse auch nichts von einem Icelandair Festival, denn eigentlich sei er bloß auf der Durchreise. Er nutze lediglich den von Icelandair angebotenen kostenlosen Zwischenstopp in Reykjavík, um dann zurück in die USA zu fliegen.

Was es mit diesem Bändchen auf sich hat, will der Herr von mir also wissen und ich zeige auf mein Handgelenk, um mich der Ernsthaftigkeit der Frage zu vergewissern. Mir kommt gar nicht in den Sinn, dass man sich zu dieser Jahreszeit nicht wegen des Festivals in Reykjavík befindet. Noch ungläubig, ob es sich um einen Scherz handle, erzähle ich ihm vom Musikfestival, das am nächsten Tage beginnen wird, welche Bands wann und wo auftreten und was es sonst noch während des Festivals zu erleben gibt: Musikfilme auf der Kinoleinwand oder ein Schwimmbadbesuch der besonderen Art, dem "Blue Lagoon Chill": Inmitten der wohl bekanntesten, milchig-blauen heißen Quelle Islands, der Blauen Lagune, legen hier DJs (wie unteranderem GusGus) auf und leicht bekleidete Damen bewegen sich auf Podesten zu den elektronischen Klängen, um die Badegäste im Wasser ebenfalls zum Tanzen zu animieren. "Interessant" entgegnet mir mein Gesprächspartner. Auch dass ich mich wie viele andere früh morgens vor einem Plattenladen anstellen werde, um kostenlose Björk-Tickets zu ergattern, erzähle ich und dass man dafür zum Beispiel das Bändchen benötige.

Meine Erklärung auf seine Frage ist also ganz simpel: Festivalarmbänder gewähren einem Einlass zu Konzerten, ohne dass man jedes Mal durch das Vorzeigen eines Tickets belegen muss, dass man dafür gezahlt hat. So einfach zu beantworten ist das – dachte ich. Doch im Laufe der nächsten Woche sollte mir die Berechtigung seiner Frage erst richtig bewusst werden.

Denn wer schöne Musik hören mag, muss nicht viel Geld ausgeben. Zumindest nicht, wenn man sich in der zweiten Oktoberwoche in Reykjavík befindet. Denn dann findet nun schon seit zwölf Jahren das Iceland Airwaves Festival statt, bei dem wirklich jedes denkbare Eckchen der Innenstadt als Konzertlocation genutzt wird. An tausend schönen Orten wie dem alten Theater, Plattenläden, Kinos, altmodischen und modernen Cafés, dem lichtfunkelnden Forum des neuen Konzerthaus "Harpa", Kirche, Kunstmuseum oder einfach schlicht im eigenen Wohnzimmer der Band lassen sich ganz wunderbare Konzerte in meist gemütlicher Atmosphäre erleben. Das ist das so Besondere, so Kennzeichnende am Iceland Airwaves Festival: Neben den offiziellen Konzertlocations gibt es unzählige, sogenannte Off-Venues, an denen es stets heißt: "Eintritt frei" – und das eben auch für Menschen ohne diese ominösen roten Armbändchen. Allerdings führt dieses Konzept so manches Mal zu riesigen Menschentrauben vor den Off-Venues, so dass sich schon das Türfinden häufig als kleine Herausforderung entpuppt. Bei all dem Gedränge bieten die dicken Wintermäntel des internationalen Publikums einen gewissen Ellbogenprellschutz. Einheimische sind da schlauer, oder zumindest vielleicht einfach nur kälteresistenter und lassen die Daunenjacke dann doch lieber zuhause. Denn ist erst mal der Weg vom kalten, windigen Draußen hinein zur Konzertbühne erobert, so sind all die Jacken höchst überflüssig, da es zum einen meist sehr warm und vor allem eben unfassbar wenig Platz vorhanden ist. Doch dieses Problem ist wohl allen im Winter stattfindenden Clubfestivals gemein und konnte dem Publikum nicht groß was anhaben.

Applaus. Nun kommt Sóley auf die "Bühne", da wo am Mittag noch Sofas standen und Kaffee getrunken wurde. Dem Programmheft, oder seit diesem Jahr auch der Iceland Airwaves App, kann man entnehmen, dass die Dame von Seabear noch weitere vier Male während des Festivals auftreten wird. Auch das ist wieder typisch fürs Airwaves: es ist keine Besonderheit, dass Bands neben einem Main-Event zusätzlich auch ein paar Minikonzerte geben. Vor allem die kleineren, noch unbekannten isländischen Bands freuen sich über das (internationale) Publikum auf ihrer Insel und nutzen die Gelegenheit, gleich häufiger aufzutreten oder auch anderen Konzerten befreundeter Bands zuzuhören und spielen oder singen einfach mal gleich mit. So bekommt man die jungen Mitglieder von Sudden Weather Change auch mal bei Prinspóló oder Just Another Snake Cult zu Gesicht. Sin Fang stößt zu Cheek Mountain Thief, der Band des ehemaligen Tunng-Mitglieds Mike Lindsay, für einen Song auf die Bühne. Esmerine holt sich kanadische Unterstützung am Klavier von Patrick Watson und Puzzle Muteson wird bei seiner "Bedroom Community" mitunter von Valgeir Sigurðsson (Gründer des Bedroom Labels) musikalisch begleitet.

Der erste offizielle Festival-Tag findet einen grandiosen Auftakt durch GusGus mit einer Off-Venue Performance in einem Hostel. Es ist ein Uhr am Nachmittag, doch es wird getanzt und geschwitzt, als ob es bereits zwölf Stunden später wäre. Die Vorfreude auf die kommenden Festivaltage und -nächte steht mit einem breiten Lächeln dem Publikum nur so ins Gesicht geschrieben.

Fünf Tage lang gibt es also fast rund um die Uhr allerorts Konzerte zu genießen. Die Dosis ist für die Festivalbesucher jedoch unterschiedlich. Manch einer rennt von einem zum nächsten Ort, um auch nichts zu verpassen, was sich jedoch aufgrund der unzähligen Künstler und Venues nicht vermeiden lässt. Andere wiederum wollen eine Überdosis in jedem Fall vermeiden, mögen nicht mehr als drei, vier Konzerte am Tag sehen und picken sich deshalb lieber nur ein paar musikalische Rosinen raus. Zufrieden sind am Ende aber trotzdem alle.

Als Highlights des Reykjavík'schen Festivalmarathons kann man wohl einige Konzerte bezeichnen, doch hängt deren Benennung stark vom persönlichen Geschmack des Publikums ab – und erfrag ich diesen, erhalte ich selbst nach zehnminütigem Warten nur wenig eindeutige Antworten. Die Genre-Vielfalt auf dem Airwaves sei einfach so groß, heißt es. Man könne die verschiedenen Acts gar nicht wirklich vergleichen und daher auch keine Entscheidung treffen. Doch einig ist man sich: Von Björks Biophilia-Performance lässt sich besonders gut schwärmen. Auf dem Konzert heißt es, Frau Guðmundsdóttir sei krank, aber davon lässt sie sich nichts anmerken und so kann man an ihrer nahezu perfekten Show fast nichts kritisieren. Wie die vom Erzähler zu Beginn der Show erwähnten Elemente "Nature, Music and Technology" zusammenwirken, wird eindrucksvoll gezeigt und zu Recht bestaunt. Es ist nur die auffallende Absonderung oder vielleicht einfach nur Besonderheit der kleinen Isländerin, die das Publikum davon abhält, sich voll und ganz in den Bann ziehen zu lassen. Durch ihre riesige, rote Lockenprachtperücke und den ständig um sie herumtanzenden, jungen Mädchenchor verschafft sie sich gleich doppelten Sichtschutz. Für das Auge gibt es aber dafür den Teslatransformator oder auch acht über der Rundbühne hängende, doppelseitige Plasmabildschirme, auf denen sehr kunstvoll 3D-animierte Naturbilder zu sehen sind. Bei der Zugabe müssen dann die Schuhe dran glauben, damit die nun um zehn Zentimeter geschrumpfte, ohnehin schon kleine Björk ordentlich tanzen kann und am Ende schreitet sie samt ebenfalls barfüßigen Mädchenchor mit dem Ausruf "Declare Independence! Takk fyrir" von der Bühne.

Zwar bleiben unzählige grandiose Auftritte verschiedenster Künstler nun leider unerwähnt, doch für ein, zwei ist noch Platz. Denn auf dem Airwaves gibt es natürlich auch einiges zu entdecken. Zum Beispiel begeisterten zu später Stunde Clock Opera das tanzwütige Publikum. Die Band um Guy Conelly gibt's zwar schon ein paar Jahre, doch das Debut steht noch aus und kann mit Spannung erwartet werden, denn die bisher veröffentlichten Singles sind durchaus mehr als vielversprechend.

Als weiterer Glücksfund stellt sich der Multiinstrumentalist Matthew Hemerlein heraus, der dieses Jahr beim Michelberger Mystery Festival unter anderem neben Bands wie The National, Scott Matthew und Wye Oak auftrat und schon dort bereits als Geheimtipp gefeiert wurde. Mit typischer Indiefrise loopt der junge Herr Hemerlein singend, geigend und Gitarre spielend das Publikum in einen tranceähnlichen Zustand. Am Ende eines jeden Songs weckt sich vor allem der weibliche Teil des Publikums mit tosendem Applaus selbst auf, um dann mit Staunen dem charmant verwegenen Solokünstler wieder zu verfallen.

Das war toll: Natürlich an erster Stelle die vielseitige Auswahl großartiger Künstler. Ansonsten, praktisch: die Iceland Airwaves App. Es mag sich über die Nervig- und Nützlichkeit von Smart Phones streiten lassen, doch mit der App war man eindeutig im Vorteil: Neben dem Line Up und Infos über die Künstler können auch die Wege zum jeweiligen Venue in Erfahrung gebracht werden. Aufgrund von Live-Cams fallen auch Entscheidungen leichter, wenn man von Zeitplan-Überschneidungen geplagt wird, denn die Schlangen vor den Venues werden gefilmt und sind ein hilfreicher Tipp, ob es sich noch lohnt, dort anzustehen.

Das war weniger toll: Das Festival expandiert und samt wachsendem Publikum so auch die Schlangen vor den Venues. Man könnte es auch das Haldern-Spiegelzelt-Syndrom nennen. Denn wer unbedingt seine Lieblingsband sehen möchte, sollte früh da sein. Ansonsten kann man schonmal ordentlich frustriert sein, wenn man zwei Stunden vergebens auf Einlass gewartet hat und dann doch am Ende dem Konzert nur von draußen lauschen kann. Das Haldern Pop Festival hat aber im Vergleich zum Airwaves den Vorteil, dass es im Sommer statt findet... Weiterhin nervig: Kameras. Lautes Geknipse großer Digitalkameras oder die lächerlichen, künstlichen Verschlussgeräusche kleiner Handykameras erschweren das Zuhören vor allem bei ruhiger Musik. Zudem wird die Sicht durch leuchtende Bildschirme leider auch behindert. Ist es wirklich von Vorteil, das komplette Festival durch YouTube-Videos schlechter Qualität nochmal (oder vielmehr zum ersten Mal) zu erleben...?

Allgemein bekannte kleine Problemchen sind das, die den wundervollen Gesamteindruck des Iceland Airwaves Festivals jedoch wirklich nicht trüben können. Es ist ein einzigartiges Festival, auf dem man die Gelegenheit bekommt, internationale Künstler aus ganz verschiedenen Musikgenres an ganz besonderen Orten Reykjavíks entdecken und lieben zu lernen. Tja, und die roten Armbändchen? Die braucht man dafür zwangsweise tatsächlich nicht!

PS: Bilder gibt's auf unserer Facebook-Seite, auf dem Titelbild hier ist übrigens Beach House zu sehen.

Frauke Stenglein

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