Festival-Nachbericht

Appletree Garden Festival 2015


"Wir befinden uns im Jahre 2015. Die ganze deutsche Festivallandschaft ist von finanzkräftigen Veranstaltern besetzt... Die ganze Festivallandschaft? Nein! Ein von unbeugsamen Freiwilligen organisiertes Festival hört nicht auf, den Branchenprimi Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die großen Akteure, die als Festivals in den Orten Mendig, Gelsenkirchen und Scheeßel liegen..."

Diese Beschreibung des Appletree Garden Festivals ist zwar erstens ein wenig überspitzt, gibt es doch noch etliche andere, kleine etablierte Festivals, und zweitens dann doch ziemlich unkreativ, aber dennoch steckt darin ein Fünkchen Wahrheit. Die Festivallandschaft in Deutschland wird überschwemmt von Veranstaltern wie DEAG, die Künstler mit komplett überhöhten Gagen buchen und damit den eh schon hohen Konkurrenzdruck unter den Festivals nochmals erhöht. Umso schöner ist es zu sehen, wie ein so kleines charmantes Festival wie das Appletree Garden Jahr für Jahr stimmige Line-ups auf die Beine stellt und damit weiterhin erfolgreich ist. 2015 waren die Karten für das Wochenende in Diepholz schon Anfang März ausverkauft – interner Rekord. Aber was macht das Festival aus?

Einerseits ist es das gut zusammengestellte Line-up, das dieses Jahr neben den Vorabankündigungen mit Friska Viljor, Darwin Deez, Frittenbude und den Mighty Oaks auch noch vier Secret Acts beinhaltete, die zwar nicht jedermanns Sache, aber objektiv ziemliche Hochkaräter sind. Letztere spielten schon am Donnerstag und waren wie zu erwarten nichts Besonderes, aber gut nebenbei zu hören und haben sicherlich dem ein oder anderen Gast ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Heimliches Highlight waren am ersten Festivaltag jedoch Tour Of Tours, die Folk-Supergroup um Tim Neuhaus und Honig. Sie traten mit einem buntgemischten Set an, das erst Recht gegen Ende mit unheimlich viel Power die gesamte Menge vor der Hauptbühne zum Tanzen und Mitsingen brachte.

Der Freitag starte programmatisch, wie es sich für ein solch magisches Festival gehört, mit einer Zaubershow. Anders als diese wirklich schlechte Überleitung wusste The Great Joy Leslie mit einer Mischung aus tatsächlich verblüffenden Einlagen und simplen, nicht bierernst gemeinten Tricks durchaus zu gefallen. Besonders die Unterstützung durch seinen etwas angeheiterten Assistenten Steffen brachte ihm großen Applaus der überraschend großen Menschenmenge ein. Aber auch musikalisch hatte der zweite Festivaltag einiges zu bieten. Nachmittags bewiesen Jake Isaac, der vor Spielfreude gleich nach seinem Auftritt auf der Waldbühne noch ein Akustik-Set spielte, oder die Indie-Popper Oscar And The Wolf ihr Können. Für das Tages-Highlight sorgte am frühen Abend dann das Austropop-Phänomen Wanda. Mit 45 Minuten Tanzen, Singen und riesiger Euphorie, inklusive ihres Hits Bologna und auch den einen oder anderen neuen Tönen beschenkten die Wiener das Publikum mit einem der besten Auftritte, den die Hauptbühne in den letzten Jahren gesehen hat. An das Niveau kamen die restlichen Konzerte des Tages nicht heran, auch wenn Erlend Øye mit seinem wunderbar tanzbaren Indie-Auftritt inklusive Whitest-Boy-Alive-Songs an dem Podest Wandas kratzte. Trotz allem blieb man auch nicht von Enttäuschungen verschont. So wusste der größte Hype Deutschlands, AnnenMayKantereit, nicht vollends zu überzeugen, trotz der wahrscheinlich größten Menschentraube vor der Hauptbühne seit Gründung des Festivals. Die Truppe aus Köln hat etwas von Herbert Grönemeyer an sich: Eine Mischung aus komplett überragenden Songs und völlig belanglosen, sozusagen eine Band der Extreme. Von so einer Bewertung kann Aurora, bekannt aus der neuesten Vodafone-Werbung, nur träumen. Von ihrem Auftritt blieb leider nicht außer eines überaus nervigen I'm running with the wolves tonight, I'm running with the wooohooolves-Ohrwurms nichts hängen.

Gar nicht nervig waren hingegen am Folgetag Die Nerven. Ihr lauter, postpunkiger Sound war nach der etwas ärgerlichen Absage der Intergalactic Lovers der passende Start in den klassisch komplett verregneten Abschlusssamstag und wusste das Publikum an der Waldbühne direkt in seinen Bann zu ziehen. Gespaltene Meinungen hinterließen hingegen Sizarr, deren wunderschön poppige Melodien von einigen groß gefeiert, von anderen als komplett belanglos und lustlos gesehen wurden. Das konnte man von Jack Garratt auf gar keinen Fall behaupten. Die besondere Mischung aus elektronischen Beats und Singer-Songwritertum war das erste Highlight eines musikalisch hervorragenden Samstagabends. Sozusagen eine schöne Einleitung für die neben Wanda besten 45 Minuten des Festivals – Benjamin Clementine. Zwar war er selbst eher weniger überzeugt, da ihm der Sound zu schwach und das Publikum zu laut war, dennoch hat er mit seiner wunderschön souligen Stimme und dem ruhigen Pianospiel die Waldbühne verzaubert und das Unwetter und die durchnässten Klamotten einmal in den Hintergrund treten lassen. Zum Festivalabschluss gaben sich dann die Legenden der Hamburger Schule Tocotronic die Ehre. Die Vorfreude war bei eingefleischten Fans der Band so groß, dass sich halbwegs erwachsene Menschen zu Äußerungen wie "das wird sicherlich tocotoll" hinreißen ließen, was sich nach dem Konzert zu einem "das war sogar tocogeil" verschob. Aber auch für Tocotronic-Laien war der Auftritt ein gelungenes Ende eines bandmäßig starken Wochenendes.

Aber ist es nur der musikalische Aspekt, der das Appletree Garden zum gallischen Dorf unter den Festivals macht? Nein, sogar eher weniger. Ein wirklich gutes Line-up, erst Recht zu dem geringen Preis, ist woanders zwar schwer zu finden, aber nicht unmöglich. Den Unterschied macht beim Apfelbaum der Rest. Das Wochenende ist etwas Besonderes, das einen in der Zeit nach dem Festival begleitet und schon Monate vorher die Vorfreude aufs Neue ansteigen lässt. Irgendwas ist an diesem Wochenende in der niedersächsischen Provinz anders als sonst, vielleicht eine der wenigen Möglichkeiten, um aus dem Alltag auszubrechen und trotzdem weit weg vom Abifahrtstourismus zu bleiben. Hier erlebt man Geschichten von fremden Menschen, die einem dennoch ans Herz gehen. Ist es eine Hochzeit auf dem Festival oder die eigentlich wahnwitzige Idee, sein gesammeltes Ersparnis in einen Bierstand und ein kleines Kioskhäuschen zu investieren, um Jahr für Jahr die Besucher auf dem Campingplatz zu bewirtschaften – das sind alles Zeichen von Menschlichkeit, die einem länger und positiver im Gedächtnis bleiben als so manche "Errungenschaften" der großen Festivals. Frei nach Dubcek kann man das Appletree Garden in der heutigen Zeit problemlos als "Festival mit menschlichem Antlitz" bezeichnen. Oder eben als eins der wenigen gallischen Dörfer in der deutschen Festivallandschaft. Danke dafür.

Lewis Wellbrock

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